Du musst nicht einmal mehr die Bahnhofs-Anzeige checken, um zu sehen, auf welchem Gleis du warten musst? Unter der Woche trägst du Socken auch mal zwei Tage hintereinander? Du hast tausend Selfies von dir beim Einschlafen auf dem Handy? Herzlichen Glückwunsch! Vermutlich führst du eine Fernbeziehung.
In Zeiten von Smartphones und ICE ist die Liebe über die Distanz zu einem Beziehungsmodell geworden, das jahrelang halten kann. Manchen Menschen ist es nicht einmal so unlieb, den Großteil der Woche allein zu sein, denn das bedeutet auch mehr Zeit, um sich dem Studium, Freundeskreis oder Hobbys in aller Ruhe und ohne schlechtes Gewissen zu widmen.
Doch während einige Paare wunderbar funktionieren, wenn sie getrennt voneinander leben, zerbrechen andere an der räumlichen Entfernung, leiden jeden Sonntag, wenn der Lieblingsmensch wieder den Koffer packt und zermürben sich unter der Woche vor Sehnsucht (und Misstrauen!).
Was ist also das Geheimnis funktionierender Fernbeziehungen? Wir sprachen darüber mit Ulrike Scheuermann. Sie ist Diplom-Psychologin, Autorin und Emotionscoach.
Sie ist erst einmal sehr optimistisch, was die Liebe auf Distanz angeht. "Eine Fernbeziehung kann ganz wunderbar funktionieren, denn man erlebt nur das Schöne, meist die Wochenenden zusammen", macht sie die Vorteile deutlich. Streit um den Abwasch? Oder lange Arbeitszeiten? Fällt weg. Scheuermann: "Es gibt keinen störenden oder frustrierenden Alltag."
Gerade weil man sich nicht jeden Tag sieht, bleibt der Dating-Modus gewissermaßen länger erhalten. Viele Paare geben sich Mühe, die gemeinsame Zeit umso schöner zu gestalten, denken sich Unternehmungen aus und putzen sich und die Wohnung am Freitag noch einmal heraus. Eigentlich romantisch, wie die Psychologin bestätigt: "Beide freuen sich auf die Treffen, es ist immer etwas Besonderes."
Zudem bleibt unter der Woche viel Zeit, um sich eigenen Interessen zu widmen, gerade für eher introvertierte Menschen kann es schön sein, Ruhephasen ganz für sich allein zu haben. Das setzt allerdings voraus, dass man einander die Alleine-Zeit von ganzem Herzen gönnt, ohne insgeheim zu fürchten, dass der oder die andere fremdgeht.
Gleichzeitig geht damit eine Verantwortung einher, dass die Partnerschaft in absentia nicht verleugnet wird, nur weil es theoretisch möglich wäre. Die Psychologin hält diese Dynamik aus Verbindlichkeit und Gelassenheit für Grundpfeiler jeder funktionierenden Fernbeziehung.
Sie führt aus:
Es ist zum Teil eine Persönlichkeitsfrage, ob Vertrauen und Allein-Sein leicht fällt. Doch es gibt Hilfsmittel, um die negativen Begleiterscheinungen einer Fernbeziehung im Zaum zu halten – ein Hoch auf Videocalls.
Das digitale Beisammensein kann als Brücke dienen, um sich nicht voneinander zu entfernen. Denn auch wenn man dem anderen blind vertraut, sollte es nicht völlig egal werden, was er oder sie den "getrennten" Teil der Woche erlebt.
Im Gegenteil, meint die Psychologin, "sollte man bei einer räumlichen Distanz trotzdem eine ständige Nähe herstellen, um an dem Leben des anderen teilzuhaben, zum Beispiel durch regelmäßige Telefonate, in denen man sich auch tiefergehend austauscht."
Gelingt das, kann man einander näher fühlen als manche Paare, die Abend für Abend schweigend nebeneinander auf dem Sofa sitzen. Offene Kommunikation, ehrliches Interesse und Bemühen umeinander sind also die Schlüssel einer guten Fernbeziehung.
Manch ein Paar führt Rituale ein und liest einander jeden Abend aus einem Buch vor, anderen ist es wichtig, morgens kurz zu schreiben oder an Wochenenden auch den Freundeskreis zu integrieren. Entscheidend ist vor allem, dass man up to date bleibt, was das Gegenüber bewegt.
"Sonst verliert man sich aus den Augen, und das Paar läuft Gefahr, sich nicht nur räumlich auseinanderzuleben", mahnt Ulrike Scheuermann. Dann fühlen sich nicht mehr nur Körper, sondern auch Herzen kilometerweit entfernt an. Spätestens dann zeigt sich leider auch eine weitere Eigenart der Fernbeziehung: Es ist nämlich oft leichter, sich von jemandem zu trennen, der den Großteil der Woche sowieso keine Rolle mehr gespielt hat.