In der Realität wollen die meisten Menschen eine Liebesbeziehung führen, die auf Respekt beruht. Mit einem Menschen, der wohlwollend, fürsorglich und auf Augenhöhe ist. Doch in den Tiefen der Sex-Fantasien zeigt sich oft ein ganz anderes Bild: Der Tabubruch, besonders der extrem unmoralische, scheint viele Menschen enorm anzuturnen.
Ein absoluter Klassiker, sowohl in der Literatur, Filmen als auch auf Pornoseiten ist dabei: Sexualisierte Gewalt. Demütigungen, Nötigungen bis hin zu Vergewaltigungen gehören eindeutig zu den Sex-Fantasien, die niemand im echten Leben gutheißt. Doch warum scheinen sie dann so viele Menschen im Kopfkino bis zum Höhepunkt zu reizen? Sollte man sich dafür schämen?
Psychologe Christian Hemschemeier arbeitet als Paartherapeut und coacht auch in Online-Kursen. Wir fragten ihn: Wie kann es sein, dass jemand im Leben ausgesprochen liebevoll und friedfertig ist, Gewalt-Szenarien im Bett aber sexy findet? Ist das bedenklich?
Die Frage sei super, sagt er direkt. Da sie sich unheimlich viele Menschen heimlich stellen würden. Aber "solche Sex-Fantasien sind völlig normal", beruhigt er. Und sie haben nichts darüber auszusagen, wie dieser Mensch im realen Leben ist.
"Wenn solche extremen Fantasien aufkommen, zweifelt natürlich jeder ein Stück weit an sich und fragt sich: 'Bin ich da gestört? Will ich das etwa wirklich?' Aber das will natürlich keiner wirklich, ganz klar", stellt Hemschemeier fest.
Bei diesen Fantasien gehe es typischerweise nicht um eine tatsächliche Straftat, es stecke etwas anderes dahinter. "Das hat viel mit dieser Mann-Frau-Polarität zu tun. Da geht es im Grund um das Spiel mit Dominanz, Macht, Hingabe", sagt der Psychologe und führt aus:
Jeder Mensch hätte eine Lieblingsfantasie, auf die er gerne zurückgreift. Vergewaltigung wäre darunter zwar ein Extrem, aber "nicht so ungewöhnlich", erklärt der Paartherapeut weiter, "sonst wären Filme wie 'Fifty Shades of Grey' ja nicht so beliebt."
Auch dort herrsche "dieses Motiv" vor, erläutert er: Erst würde die Protagonistin zögern und dann lustvoll ausgeliefert sein. Ein Szenario, das Millionen schon beim Zusehen Freude bereitet hat. "Es ist seltsam, aber es scheint so zu sein, dass wir es beim Sex im Kopf irgendwie interessanter finden, erst Widerstände zu überwinden, als wenn es einfach vorhersehbar harmonisch zu einvernehmlichem Sex kommt", sagt der Experte.
Dabei betont er aber, dass es sich wirklich um ein reines Gedankenspiel handelt. Hemschemeier: "Man muss immer wieder sagen: Das sind natürlich Fantasien! Das darf niemand verwechseln: In der Realität wollen und sollten Menschen Konsens haben."
Doch selbst wenn zwei Menschen sich einig sind und ihre heimlichen Gedankenspiele miteinander nachspielen wollen, sollte man "ein bisschen vorsichtig sein, wie weit man geht, wenn man diese Fantasien umsetzt", sagt der Psychologe.
Im Rahmen des "Fifty Shades of Grey"-Hypes, begannen beispielsweise viele Paare sich an soften SM-Praktiken zu versuchen. "Fesselspiele und Rollenspiele, das kann man natürlich alles machen, wenn es beiden gefällt", erklärt Hemschemeier.
Dabei gehe es ihm gar nicht so sehr um "moralische Gründe", führt er aus, sondern um die Tatsache, dass man "tatsächlich ein bisschen abhängig werden kann von diesen Körperhormonen, dem Adrenalin, das dabei ausgeschüttet wird."
Man konditioniere sich selbst sozusagen darauf, dass Schmerz und Zwang zu Sex gehöre. "Dann verbindet man Lust vor allem mit Drama und Angst", erklärt Hemschemeier weiter. "Das führt manchmal dazu, dass man eine sanfte und zärtliche Sexualität gar nicht mehr so richtig genießen kann."
Wer nur noch zum Höhepunkt kommt, wenn es extrem wird, hat sich mit den eigenen Fantasien dann nicht bereichert, sondern eingeschränkt. Der Psychologe: "Daher wäre ich vorsichtig, das zu sehr auszuleben."