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Hacks für die Seele

Autismus, ADHS und Ticks: So bedenklich ist der Video-Trend auf Tiktok

Junge Frau nachdenklich
"Bin ich eigentlich normal?": Diese Frage hat sich wohl jede:r schon mal selbst gestellt.bild: IMAGO / Westend61
Hacks für die Seele

Autismus, ADHS und Ticks: Wie normal kann anders wirklich sein?

09.07.2023, 12:56
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Geht man nach den sozialen Medien, liegen Begriffe wie #ADHS (fast 408 Millionen mal bei Tiktok aufgerufen) oder #Autismus (über 278 Millionen Tiktok-Aufrufe) voll im Trend. Neurodiversität ist der Überbegriff, unter dem man psychologisch begründete Verhaltensweisen oder auch Störungen zusammenfassen kann, wobei bei weitem nicht jede "Andersartigkeit" als Störung gewertet werden sollte.

Mit der Kinder- und Jugendtherapeutin Miriam Hoff spricht watson im Rahmen der Reihe "Hacks für die Seele" regelmäßig über mentale Gesundheit und psychologische Phänomene. Sie sagt:

"Ich persönlich finde den Ansatz der Neurodiversität spannend und auch wichtig. Weg von der Pathologisierung, hin zu neurologischer Vielfalt."

Doch warnt Hoff auch davor, man dürfe darüber hinaus "die wirklich Kranken nicht vergessen und schon gar nicht, die psychischen Krankheiten herunterspielen!"

Kinder- und Jugendtherapeutin Miriam Hoff
Die Therapeutin Miriam Hoff plädiert für mehr Vielfalt und weniger Schubladen.bild: privat

Was bedeutet "Neurodiversität"?

Neurodiversität setzt sich aus dem Begriff "Neuro" (Nerven) und dem Begriff "Diversität" (Vielfalt) zusammen. Die Forschung und Therapie geht mit der Annahme "neurodivers" davon aus, dass neurobiologische Unterschiede im Gehirn eine Vielfalt präsentieren und damit die Unterschiedlichkeit der Menschen ausdrückt, also keine Störung oder Krankheit darstellt.

Die politische Dimension des Begriffs:

"Als Wort beschreibt 'Neurodiversität' die gesamte Menschheit. Aber die Neurodiversitätsbewegung ist eine politische Bewegung für Menschen, die ihre Menschenrechte einfordern."
Soziologin Judy Singer

So ist der Begriff Neurodiversität von der australischen Soziologin Judy Singer 1997 in ihrer Bachelorarbeit zum ersten Mal geprägt worden: "(...) ich nannte es eine persönliche Erforschung einer neuen sozialen Bewegung, die auf neurologischer Vielfalt basiert und verkürzte das dann auf Neurodiversität", sagte sie im Interview mit Deutschlandfunk Kultur.

Was fällt alles unter Neurodiversität?

Unter Neurodiversität fallen Aufmerksamkeitsstörungen wie ADS und ADHS, Entwicklungsstörungen wie Lese-Rechtschreib-Störung, Rechenstörungen oder Sprach- und Motorikstörungen, erklärt die Therapeutin Miriam Hoff. Auch Störungen aus dem Autismus-Spektrum gehören dazu, von Asperger bis Scanner. Des Weiteren das Tourette Syndrom, sogenannte "Ticks" und das Phänomen der psychischen Hochsensibilität.

Was ist eigentlich "normal"?

Wenn "neurodivers" das eigentliche "normal" ist, was bedeutet dann der Begriff "neurotypisch"? "Neurodivers bedeutet zunächst einmal, dass jeder Mensch ein anderes, also individuell verschaltetes Gehirn hat", erklärt Miriam Hoff im Gespräch mit watson.

Mind is Magic von Miriam Hoff
Im Buch "Mind is Magic" verrät Miriam Hoff Tipps und Tricks zur Selbsthilfe.Bild: mvg Verlag / mvg Verlag

"Der Großteil der Menschen hat ähnliche neurologische Strukturen, neurotypisch beschreibt also lediglich das neurologische Entwicklungsstadium der Mehrheit", sagt Hoff. In der Psychotherapie werde der Mensch erst dann als krank bezeichnet, wenn er selbst einen hohen Leidensdruck durch sein Verhalten hat. Es könne also durchaus sein, dass Menschen neuronal andere Strukturen haben, aber darunter gar nicht leiden. Miriam Hoff appelliert grundsätzlich, nicht alle Menschen in eine Schublade der sogenannten "Norm" zu stecken:

"Nicht jeder ist und sollte gleich sein, die Welt lebt von Unterschiedlichkeit, sie ist bunt und das nicht zuletzt durch die Vielfalt der Menschen: Wir brauchen die Extrovertierten genauso wie die Introvertierten, die Visionäre, die über den Tellerrand denken, die Kreativen, die Unmögliches möglich machen, die verrückten Träumer genauso wie die empathischen Helfer oder die analytischen Denker, die sensiblen Feingeister und die strukturierten Vordenker, diese Menschen bringen uns voran und sind alles andere als krank!"

Mit dieser Art "Gleichmacherei" unterdrücke man wichtige Impulse oder tolle Eigenschaften, die diesen Menschen besonders und wertvoll machen oder – noch schlimmer – man gebe demjenigen das Gefühl, krank oder nicht angepasst genug zu sein. "Letztlich ist das Konzept der Norm ja sowieso eine Illusion – wer ist schon normal und ganz ehrlich, wer will am Ende eigentlich als "normal" gelten? Wollen wir nicht alle individuell und divers sein?", meint Miriam Hoff.

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Wie bedenklich ist der Trend in den sozialen Medien?

Als Therapeutin sieht Hoff den Trend insofern kritisch, da Menschen mit wirklichen Erkrankungen sich bei einer Art "Marginalisierung" ihrer Störung durch die sozialen Medien vielleicht nicht mehr trauen, ihr Leiden anzuerkennen und sich dann nicht zum Psychotherapeuten trauen. "Nach dem Motto: Das ist noch alles normal, stell dich nicht so an, du bist halt nur 'anders' könnten Krankheiten nicht richtig erkannt und diagnostiziert werden und so kann wichtige Hilfe nicht stattfinden."

Wie gefährlich ist die "Selbstdiagnose"?

Die hohen Zugriffszahlen auf Inhalte zum Thema Neurodiversität in den sozialen Medien scheinen auf ein Massenphänomen hinzudeuten. Doch sind wirklich so viele Menschen neurodivers, wie es scheint oder leiden unter psychischen Störungen? Miriam Hoff warnt davor, "vorzeitig Diagnosen zu vergeben und erst nach ausführlicher Diagnostik und Anamnese zu entscheiden, ob derjenige wirklich unter einer psychiatrischen Krankheit leidet."

"Hacks für die Seele"
In unserer Reihe, in der wir ab jetzt öfter über mentale Gesundheit schreiben, soll es um Themen wie Ängste, Gefühle und Self-Care gehen. Wir wollen damit Hilfestellung geben in schwierigen Situationen: Hacks für die Psyche eben.

Andererseits könne es auch entlastend sein, wenn man endlich weiß, woher die eigenen Symptome kommen und durch die richtige Diagnose könne man Hilfe in Anspruch nehmen. Eigendiagnosen über soziale Medien oder selbsternannte Experten sollte man, sagt Miriam Hoff, vermeiden. "Im Zweifel kann der Gang zum Fachmann Klarheit schaffen."

Was bedeutet eine Diagnose für mich?

Es sei wichtig, sich nicht selbst zu pathologisieren oder in etwas hineinzusteigern, was eben keine Krankheit, sondern einfach nur eine vielleicht sogar liebenswerte Besonderheit der Persönlichkeit ist.

Auf Tiktok teilt auch Miriam Hoff Wissenstipps zum Thema Neurodiversität – ohne jedoch zu pathologisieren.

Vor allem bei jungen Menschen ginge es darum, sich selbst erstmal kennenzulernen. "Gerade in einem Alter, wo Charakterbildung und Persönlichkeitsentwicklung noch nicht abgeschlossen sind, kann es manchmal verwirrend sein, nicht genau zu wissen, wer man ist, was man möchte und zu wem oder was man gehört. Sich ausprobieren, mal über die Stränge schlagen und mit der 'Trial-and-Error-Methode' herausfinden, was wirklich zu einem passt, sind wichtige Schritte auf dem Weg ins Erwachsenwerden", meint Miriam Hoff.

Wie erkenne ich Neurodiversität bei mir selbst?

Dazu hat die Therapeutin Hoff eine klare Meinung: "Es ist wichtig, sich zu fragen, ob mich selbst (und nicht die Umwelt!) spezielle Eigenschaften an mir stören und wenn ja, zu sehen, ob ich die aus eigener Kraft ändern kann und falls nicht, mir Hilfe zu holen." Aber wenn diese Eigenschaften zu einem gehören und nur die Umwelt diktiert, dass sie "stören", sollte man sich und anderen bewusst machen, dass es keinen Grund zur Verhaltensänderung gibt. "Vorausgesetzt natürlich, man fügt mit seinem Verhalten den Mitmenschen keinen Schaden zu", schränkt Hoff ein.

"So können uns unsere neuronalen Besonderheiten zeigen, welche Richtung wir einschlagen sollten, um ein glückliches Leben zu führen. Impulsivität kann helfen, für seine Ideen einzustehen, Hyperaktivität zu viel Energie und Umsetzungsfähigkeit führen und Aufmerksamkeitsprobleme das Tor zu neuen Welten öffnen und aufzeigen, wovon ich Abstand nehmen sollte und was mich wirklich interessiert."
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Für viele Menschen ist es der Albtraum schlechthin: Der Kopf liegt nicht behutsam auf dem warmen Kissen, sondern verbringt die Nacht über der Toiletten-Schüssel. Weder ist es dort sonderlich bequem, noch ist das Resultat ein schöner Anblick.

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