Geht man nach den sozialen Medien, liegen Begriffe wie #ADHS (fast 408 Millionen mal bei Tiktok aufgerufen) oder #Autismus (über 278 Millionen Tiktok-Aufrufe) voll im Trend. Neurodiversität ist der Überbegriff, unter dem man psychologisch begründete Verhaltensweisen oder auch Störungen zusammenfassen kann, wobei bei weitem nicht jede "Andersartigkeit" als Störung gewertet werden sollte.
Mit der Kinder- und Jugendtherapeutin Miriam Hoff spricht watson im Rahmen der Reihe "Hacks für die Seele" regelmäßig über mentale Gesundheit und psychologische Phänomene. Sie sagt:
Doch warnt Hoff auch davor, man dürfe darüber hinaus "die wirklich Kranken nicht vergessen und schon gar nicht, die psychischen Krankheiten herunterspielen!"
Neurodiversität setzt sich aus dem Begriff "Neuro" (Nerven) und dem Begriff "Diversität" (Vielfalt) zusammen. Die Forschung und Therapie geht mit der Annahme "neurodivers" davon aus, dass neurobiologische Unterschiede im Gehirn eine Vielfalt präsentieren und damit die Unterschiedlichkeit der Menschen ausdrückt, also keine Störung oder Krankheit darstellt.
So ist der Begriff Neurodiversität von der australischen Soziologin Judy Singer 1997 in ihrer Bachelorarbeit zum ersten Mal geprägt worden: "(...) ich nannte es eine persönliche Erforschung einer neuen sozialen Bewegung, die auf neurologischer Vielfalt basiert und verkürzte das dann auf Neurodiversität", sagte sie im Interview mit Deutschlandfunk Kultur.
Unter Neurodiversität fallen Aufmerksamkeitsstörungen wie ADS und ADHS, Entwicklungsstörungen wie Lese-Rechtschreib-Störung, Rechenstörungen oder Sprach- und Motorikstörungen, erklärt die Therapeutin Miriam Hoff. Auch Störungen aus dem Autismus-Spektrum gehören dazu, von Asperger bis Scanner. Des Weiteren das Tourette Syndrom, sogenannte "Ticks" und das Phänomen der psychischen Hochsensibilität.
Wenn "neurodivers" das eigentliche "normal" ist, was bedeutet dann der Begriff "neurotypisch"? "Neurodivers bedeutet zunächst einmal, dass jeder Mensch ein anderes, also individuell verschaltetes Gehirn hat", erklärt Miriam Hoff im Gespräch mit watson.
"Der Großteil der Menschen hat ähnliche neurologische Strukturen, neurotypisch beschreibt also lediglich das neurologische Entwicklungsstadium der Mehrheit", sagt Hoff. In der Psychotherapie werde der Mensch erst dann als krank bezeichnet, wenn er selbst einen hohen Leidensdruck durch sein Verhalten hat. Es könne also durchaus sein, dass Menschen neuronal andere Strukturen haben, aber darunter gar nicht leiden. Miriam Hoff appelliert grundsätzlich, nicht alle Menschen in eine Schublade der sogenannten "Norm" zu stecken:
Mit dieser Art "Gleichmacherei" unterdrücke man wichtige Impulse oder tolle Eigenschaften, die diesen Menschen besonders und wertvoll machen oder – noch schlimmer – man gebe demjenigen das Gefühl, krank oder nicht angepasst genug zu sein. "Letztlich ist das Konzept der Norm ja sowieso eine Illusion – wer ist schon normal und ganz ehrlich, wer will am Ende eigentlich als "normal" gelten? Wollen wir nicht alle individuell und divers sein?", meint Miriam Hoff.
Als Therapeutin sieht Hoff den Trend insofern kritisch, da Menschen mit wirklichen Erkrankungen sich bei einer Art "Marginalisierung" ihrer Störung durch die sozialen Medien vielleicht nicht mehr trauen, ihr Leiden anzuerkennen und sich dann nicht zum Psychotherapeuten trauen. "Nach dem Motto: Das ist noch alles normal, stell dich nicht so an, du bist halt nur 'anders' könnten Krankheiten nicht richtig erkannt und diagnostiziert werden und so kann wichtige Hilfe nicht stattfinden."
Die hohen Zugriffszahlen auf Inhalte zum Thema Neurodiversität in den sozialen Medien scheinen auf ein Massenphänomen hinzudeuten. Doch sind wirklich so viele Menschen neurodivers, wie es scheint oder leiden unter psychischen Störungen? Miriam Hoff warnt davor, "vorzeitig Diagnosen zu vergeben und erst nach ausführlicher Diagnostik und Anamnese zu entscheiden, ob derjenige wirklich unter einer psychiatrischen Krankheit leidet."
Andererseits könne es auch entlastend sein, wenn man endlich weiß, woher die eigenen Symptome kommen und durch die richtige Diagnose könne man Hilfe in Anspruch nehmen. Eigendiagnosen über soziale Medien oder selbsternannte Experten sollte man, sagt Miriam Hoff, vermeiden. "Im Zweifel kann der Gang zum Fachmann Klarheit schaffen."
Es sei wichtig, sich nicht selbst zu pathologisieren oder in etwas hineinzusteigern, was eben keine Krankheit, sondern einfach nur eine vielleicht sogar liebenswerte Besonderheit der Persönlichkeit ist.
Vor allem bei jungen Menschen ginge es darum, sich selbst erstmal kennenzulernen. "Gerade in einem Alter, wo Charakterbildung und Persönlichkeitsentwicklung noch nicht abgeschlossen sind, kann es manchmal verwirrend sein, nicht genau zu wissen, wer man ist, was man möchte und zu wem oder was man gehört. Sich ausprobieren, mal über die Stränge schlagen und mit der 'Trial-and-Error-Methode' herausfinden, was wirklich zu einem passt, sind wichtige Schritte auf dem Weg ins Erwachsenwerden", meint Miriam Hoff.
Dazu hat die Therapeutin Hoff eine klare Meinung: "Es ist wichtig, sich zu fragen, ob mich selbst (und nicht die Umwelt!) spezielle Eigenschaften an mir stören und wenn ja, zu sehen, ob ich die aus eigener Kraft ändern kann und falls nicht, mir Hilfe zu holen." Aber wenn diese Eigenschaften zu einem gehören und nur die Umwelt diktiert, dass sie "stören", sollte man sich und anderen bewusst machen, dass es keinen Grund zur Verhaltensänderung gibt. "Vorausgesetzt natürlich, man fügt mit seinem Verhalten den Mitmenschen keinen Schaden zu", schränkt Hoff ein.