Mike Delberg ist Berliner, in der Hauptstadt aufgewachsen. Ein ganz normaler Deutscher. Und Jude. Die meiste Zeit seines Lebens trug er nur zu besonderen Anlässen seine Kippa auf dem Kopf. Seit einigen Jahren geht er ohne die Kopfbedeckung, die ein Symbol des jüdischen Glaubens ist, nicht mehr aus seiner Wohnung. Er wollte damit nach dem verstärkten Aufkommen des Antisemitismus in den vergangenen Jahren ein Exempel statuieren, der Welt zeigen: Menschen jüdischen Glaubens werden nicht von den Straßen Deutschlands verschwinden. Deshalb engagiert er sich auch politisch, ist etwa im Präsidium des jüdischen Sportverbandes Makkabi Deutschland.
Seit dem 7. Oktober herrscht plötzlich wieder Krieg in Israel, ausgelöst durch den brutalen Großangriff der terroristischen Hamas aus dem Gazastreifen. Die Zuspitzung des seit Jahrzehnten schwelenden Konflikts hat das Feindbild des Juden in Teilen der Welt erneut in den Vordergrund gerückt. Nicht nur in Nahost. Nicht nur in Gaza oder dem Iran. Weltweit, besonders in der arabischen Bevölkerung. Auch in Deutschland.
Bombenanschläge, antisemitische Demonstrationen, Drohungen: Die Sicherheitslage für Jüd:innen in Deutschland ist derzeit kritisch. Jüdische Gemeinden raten ihren Mitgliedern, auf das Tragen der Kippa und das Sprechen auf Hebräisch in der Öffentlichkeit zu verzichten.
Im Gespräch mit watson erzählt der Berliner Mike Delberg, wie er und andere Personen jüdischen Glaubens nun mit dem Antisemitismus umgehen und welche Erwartungen er an die Gesellschaft hat.
Watson: Es sind turbulente Zeiten für Jüd:innen in Deutschland. Was hat der Beginn des Krieges in Nahost am 7. Oktober am Sicherheitsgefühl der hier lebenden Menschen verändert?
Der 7. Oktober hat so ziemlich alles verändert. Ich gehe mit dem Gefühl auf die Straße, dass andere Leute meine Kippa möglicherweise negativ bewerten und sogar angreifen könnten. Man fragt sich zum Beispiel, ob man dem Uber-Fahrer vertrauen kann, weil man Schreckensgeschichten hört. Man überlegt sogar, ob man beim Lieferdienst bestellt. Ich weiß ja nicht, ob der Lieferant nicht möglicherweise den Haussegen (Anm. d. Red.: eine Schriftkapsel am Türpfosten, Symbol des jüdischen Glaubens) an der Tür erkennt.
Besonders an Tagen, an denen die Hamas zu Gewalt gegen Juden aufruft, ist das scary. Vielleicht ist nicht jede Sorge berechtigt, aber sie ist da.
Hat sich das Grundgefühl im Alltag nun also zur Angst entwickelt?
Ich würde sagen, ich bin besorgt. Viele von uns haben aber Angst. Sorgen mache ich mir vor allem um meine Freunde, meine Familie. Und um das, was um mich herum passiert.
Kürzlich haben Unbekannte Davidsterne an Häuserwände von jüdischen Bewohner:innen gesprüht. Nazis hatten das Symbol immer wieder genutzt, um Menschen als jüdisch zu kennzeichnen und zu brandmarken ...
Ja, das erinnert wirklich an die dunkelsten Zeiten unseres Landes. Ich glaube, dass die meisten Menschen um uns herum sich einfach der Dimension gar nicht bewusst sind, wo wir hier schon wieder stehen. Meine Nachbarin hat mich beispielsweise darum gebeten, am Tag, an dem die Hamas zu Gewalt gegen Juden auf der ganzen Welt aufgerufen hat, die Mesusa (Anm. d. Red.: eine Schriftkapsel am Türpfosten, die im Judentum Bedeutung hat und Verwendung findet) zu entfernen.
Bist du ihrem Wunsch nachgekommen?
Ja. Obwohl es für mich eigentlich nicht erträglich ist, unseren jüdischen Glauben im Jahr 2023 in Berlin auf diese Weise verstecken zu müssen. Dass sie so verängstigt war, dass sie mich um so etwas bitten musste, ist für mich eine neue Stufe der Bedrohung.
Während wir miteinander sprechen, läufst du mit deiner Kippa auf dem Kopf durch Berlin. Inwiefern hast du daran gedacht, sie aus Sicherheitsgründen nicht mehr zu tragen?
Ich werde mein Judentum nicht verstecken. Während ich durch die Stadt gehe, bin ich mir aber der möglichen Konsequenzen bewusst.
Wie war das Sicherheitsgefühl vor dem 7. Oktober?
Ich bin auch schon vorher unangenehmen Situationen ausgesetzt gewesen, bis hin zu Morddrohungen, sodass die Polizei Streife von meinem Haus fahren musste. Einfach nur, weil ich es gewagt habe, mich für Frieden in Israel einzusetzen. Jetzt ist der Antisemitismus noch gewaltbereiter geworden, richtet sich gegen jede erkennbar jüdische Person.
Du bist im Präsidium des jüdischen Turn- und Sportvereins Makkabi. Wie wirkt sich die aktuelle Sicherheitslage hier aus?
Natürlich stellen wir uns die Frage, ob wir unsere Spiele so stattfinden lassen können, wie wir es sollten. In Berlin hat man sich beispielsweise dafür entschieden. Aber: Bei den Veranstaltungen waren mehr Presse und Polizei da als Makkabi-Fans. Es war auch schon vorher so, dass jede jüdische Einrichtung – auch Schulen und Kitas – massiv von der Polizei beschützt werden müssen, von Zäunen umgeben sind. Das ist nicht normal, aber das ist die Normalität, in der wir bis jetzt gelebt haben. Jetzt ist uns noch nicht mal das sicher genug.
Einige jüdische Schulen und Einrichtungen sind derzeit in massiver Alarmbereitschaft, manche bleiben aus Angst vor Übergriffen praktisch geschlossen ...
Ja, die Angst ist da. Viele von den Kindern von meinen Freunden gehen an jüdische Schulen. Sie trauen sich nicht mehr, ihre Kinder dahin zu schicken. Wenn wir Juden eine Sache gelernt haben, ist es, dass wenn man uns droht, uns vernichten zu wollen, wir das ernst nehmen. Wir sehen, dass die Welt um uns gerade verrückt wird.
Was wünschst du dir von der politischen Führung?
Eine klare Positionierung gegen Terror und Antisemitismus. Richtigen, ehrlichen Schutz durch die Mehrheitsgesellschaft. Die Politik hat viele richtige Sachen in der letzten Zeit gesagt, aber wir werden Sie an ihren Taten messen. Wenn sich Juden in Deutschland unsicher fühlen, muss die Sicherheit hochgefahren werden. Auf der anderen Seite müssen die Gefährder in ihre Schranken gewiesen werden.
Du sprichst von einem Schutz durch die Mehrheitsgesellschaft. Inwiefern fühlt sich die jüdische Gemeinschaft im Stich gelassen?
Wenn ich an den Geschichtsunterricht damals denke, als die Nazizeit und der Holocaust Thema waren, waren sich immer alle einig: Ja, wir hätten uns widersetzt, wir hätten was gegen die Judenverfolgung gemacht. Genau dieser Spirit fehlt mir jetzt in der Situation, wo wir es tatsächlich brauchen. Wo ist das Widersetzen? Wo ist die Solidarität, die man beispielsweise bei der Ukraine gespürt hat? Bei den Demos gegen den Ukraine-Krieg sind hunderttausende von Menschen auf die Straßen gegangen. Als Israel überfallen wurde und an einem Tag die meisten Juden seit dem Holocaust gestorben sind, waren weit weniger Menschen vor dem Brandenburger Tor. Viele davon Juden, würde ich sagen.
Deine Eltern sind damals nach Deutschland geflohen, um hier sicher zu sein ...
Genau, sie sind aus der ehemaligen Sowjetunion geflohen, um hier einen sicheren Hafen zu haben. Die Großmutter einer sehr guten Freundin sagte mal zu mir, warum sie nach Deutschland gekommen ist: "Hier haben Sie sich an uns gerade ausgetobt, wir werden hier etwas Ruhe davor haben", sagte sie zu mir. 90 Jahre nach dem Holocaust werden wieder Davidsterne an Türen von jüdischen Häusern gemalt, jüdische Symbole versteckt und jüdische Kitas und Grundschulen attackiert.
Hast du Gedanken, das Land zu verlassen?
Ich werde der letzte Jude sein, der geht und ich werde weiter gegen den Antisemitismus kämpfen. Aber viele Juden beschäftigen hier existenzielle Fragen. Sie fühlen sich so unsicher, dass sie über die Flucht nachdenken. Aber wohin? Das ist der Punkt. Israel wurde genau aus diesem Grund gegründet. Damit es einen Ort auf der Welt gibt, wo Juden Juden sein können. Deshalb setzen wir uns auch hier in Deutschland für Israel so sehr ein, weil wir wissen, dass es unsere Lebensversicherung ist. Gibt es die nicht mehr, wer schützt uns dann?