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Mit Behinderung leben: Aktivistin erzählt von Diskriminierung und Wut

Aktivistin Luisa L'Audace hat eine Plattform für Menschen mit Behinderungen gegründet. Die Inhalte, für die sie einsteht, beziehen sich auf Inklusion und Antidiskriminierung. Menschen mit Behinde ...
Luisa L'Audace hat eine Plattform für Menschen Behinderung gegründet. Jan-Ole Lops
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Aktivistin Luisa L'Audace: "Ich würde niemals meine Behinderung abgeben"

07.03.2023, 10:24
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Luisa L'Audace ist Aktivistin und Beraterin für Inklusion und Antidiskriminierung. Sie selbst hat eine seltene angeborene neuromuskuläre Erkrankung. In ihrem Buch "Behindert und stolz" schreibt Luisa darüber, warum Ableismus (Diskriminierung wegen körperlichen oder psychischen Beeinträchtigung) uns alle etwas angeht und wie wir ihn verlernen können.

Im Interview mit watson erklärt Luisa L'Audace unter anderem, warum wir alle schon mal diskriminierend waren, wie wir das ändern können und warum sie niemals ihre Behinderung abgeben würde.

watson: In der Einleitung deines Buches steht ein Zitat: "Die Welt will uns hier nicht und möchte uns tot sehen." Glaubst du das wirklich?

Luisa L'Audace: Natürlich klingt das erstmal überspitzt. Aber wenn man sich ein bisschen mehr mit der Thematik der strukturellen Diskriminierung und vor allem auch mit der Geschichte behinderter Menschen befasst, dann ist das leider ziemlich treffend. Es geht um unsere Sozialisierung und um das, was wir gelernt haben: Dass ein Leben mit Behinderung weniger wert ist und vor allem, dass wir vermeintlich eine Belastung für die Gesellschaft darstellen. Das gab es auch schon im Nationalsozialismus, die sogenannten "Ballastexistenzen".

Nun hast du zusammen mit Alina Buschmann die Plattform "Angry Cripples" gegründet. Worum geht es da konkret?

Wir haben die "Angry Cripples" damals gegründet, weil wir gemerkt haben, dass behinderte Menschen auch heute noch in der Gesellschaft immer nur dann auftreten dürfen, wenn sie sich so verhalten, wie es nicht-behinderten Menschen gefällt. Also nur, wenn sie gewissen Narrativen entsprechen. Das Narrativ der Angry Cripples gab es tatsächlich schon. Das ist ein Begriff, der beschreibt, dass behinderte Menschen vermeintlich verbittert sind aufgrund ihrer Behinderung und sich deshalb besonders wütend verhalten. Wut ist schon immer ein guter Antrieb gewesen. Natürlich keine stumpfe Wut, sondern eine, die motiviert, etwas zu verändern und laut gegen soziale Ungerechtigkeit zu sein.

Kommt man denn mit "höflichem" Protest nicht weiter?

Das ist letzten Endes einfach nur ein Vorwand, um Menschen den Mund zu verbieten. Wir hören: "Pass bitte auf, dass du nicht wie der 'Angry Cripple' wirkst." Aber wir haben doch ein Grundrecht, die strukturelle Diskriminierung ist doch schlimm und wir erleben diese Gewalt. Warum müssen wir immer gute Miene zum bösen Spiel machen, anstatt ein bisschen ehrlicher darüber zu reden, was in der Gesellschaft passiert? Wir möchten aufzeigen, dass die Wut auf diskriminierende Strukturen berechtigt ist.

Und was ist das Ziel eurer Plattform?

Wir planen regelmäßige Artikel, in denen behinderte Menschen über ihre Lebensrealität sprechen, zu Themen, die uns bewegen oder zu denen wir bisher im Internet noch nichts gefunden haben. Wir wollen eine Anlaufstelle für behinderte Menschen von behinderten Menschen sein. Eine, die wir bisher noch nicht so gefunden haben und die wir uns auch selbst gewünscht hätten. Natürlich sind auch nicht-behinderte Menschen willkommen, sich hier zu informieren.

"Es ist sehr schwierig, sich wirklich als Teil der Gesellschaft zu fühlen. Aber ich fordere diesen Platz auf jeden Fall ein."

Fühlst du dich als Teil der Gesellschaft oder hast du das Gefühl, man wird da rausgedrängt oder nicht gesehen?

Gerade wenn du wie ich schon behindert geboren wirst, ist es schwierig, weil du nahezu nirgendwo repräsentiert wirst. Du machst den Fernseher an, siehst niemanden, der so ist wie du. Du siehst die Plakate und da ist niemand so wie du. Es ist daher sehr schwierig, sich wirklich als Teil der Gesellschaft zu fühlen. Aber ich fordere diesen Platz auf jeden Fall ein. Und ich bin der Meinung, dass wir alle einen ebenbürtigen Platz verdient haben.

Welche Probleme im Alltag gibt es, abgesehen von nicht-rollstuhlgerechten Bereichen, die herausfordernd sind für Menschen mit Behinderung?

Eine Metapher, die für mich hier ganz gut passt, ist: Wenn der ganze Wald brennt, wo fängt man dann an? Wenn du zehn verschiedene behinderte Menschen fragst, dann erzählt dir wahrscheinlich jeder etwas anderes, weil wir alle auf verschiedene Barrieren treffen. Das Wichtigste ist momentan in meinen Augen die gesetzliche und die institutionelle Situation. Wir haben 2009 die UN Behindertenrechtskonvention ratifiziert. Wir haben uns dazu verpflichtet, Teilhabe zu gewährleisten. Und es passiert immer noch nichts. Es gibt keine Gesetze, die uns helfen, das umzusetzen.

Wie und wann wurde dir das erste Mal bewusst, was es in dieser Gesellschaft bedeutet, eine Behinderung zu haben?

Letztlich ist es natürlich immer eine Sache, ob man seine eigenen Diskriminierungserfahrungen aktiv anerkennt und vielleicht sogar benennt. Die andere ist es aber, dieses negative und beängstigende Gefühl wahrzunehmen: Du bist hier nicht willkommen oder du bist "anders". Das habe ich schon definitiv als Kind erlebt, weil ich gewisse Dinge nicht so kannte wie andere Kinder und die Reaktionen schon sehr früh sehr deutlich waren.

Welche Reaktionen waren das?

Bis zur zweiten Klasse hatte ich eigentlich eine sehr schöne Schulzeit. Aber ab der dritten oder vierten Klasse, wo es mehr um Äußerlichkeiten ging oder Sportlichkeit, ging es los. Da haben sich die Probleme und Anfeindungen verstärkt. Ab der fünften Klasse wurde es für mich nicht mehr aushaltbar. Ab da habe ich sehr viele Schulwechsel hinter mich gebracht, in der Hoffnung, das hinter mir zu lassen. Aber wenn man als Kind schon ein Trauma erfährt, das nicht aufgearbeitet wird, weil Therapeut:innen damit nicht umgehen können, weil Eltern damit überfordert sind, weil vielleicht auch zu Hause gerade vieles im Argen ist, dann ist das eine ganz große Wunde, die nicht verheilen kann. Und dementsprechend hat sich Schule nie wieder wie ein sicherer Ort angefühlt.

Du hast als Kleinkind keinen Rollstuhl bekommen, weil die Ärzte dachten, so würdest du weniger diskriminiert. Du hättest dir aber einen gewünscht. Passiert es oft, dass nicht behinderte Menschen etwas gut meinen, das dein Leben aber eigentlich erschwert?

Ja, total. Das ist etwas, was mir immer wieder widerfährt, dass nicht-behinderte Menschen meine Behinderungen als etwas so Negatives empfinden, dass sie mir zum Beispiel auch meine Behinderung absprechen. "Ich sehe deine Behinderung gar nicht, für mich bist du gar nicht behindert." Das ist so ein typischer Satz, der wahrscheinlich ins gleiche Muster fällt. Das meinen die Menschen sicherlich eigentlich gut. Das diskriminiert mich aber trotzdem, weil sie mir einen Teil meiner Identität absprechen und damit aussagen, dass sie diese ganzen Diskriminierungen, diese fehlenden Zugänge, diese vielen komplexen Dinge einfach nicht sehen wollen.

"Ich würde niemals meine Behinderung abgeben."

Wenn du wählen könntest: Würdest du dir wünschen, keine Behinderung zu haben?

Ich würde niemals meine Behinderung abgeben. Nicht, weil ich es schön finde, diskriminiert zu werden. Aber weil mir wichtig ist zu signalisieren, dass man mit Behinderung ein sehr schönes, erfülltes Leben haben kann wie jede andere Person auch. Und dass das Problem niemals die Behinderung darstellt. Natürlich dürfen behinderte Menschen auch darunter leiden, auch ich habe viele Dinge hinter mir, die nicht schön waren. Aber eine Behinderung ist nichts grundsätzlich Negatives. Das Problem ist immer die Gesellschaft und die Barrieren, auf die wir stoßen.

Wie kann man Ableismus denn verlernen?

In dem man sich informiert. Und offen ist. Es ist oft nicht so angenehm, wenn man sich das erste Mal damit auseinandersetzt, weil da ein gewisses Schuldgefühl entstehen kann, auf das man erst mal mit Abwehr reagiert. Es ist wichtig, sich bewusst zu machen, dass wir uns alle schon mal diskriminierend verhalten haben, dass wir alle so sozialisiert sind und dass wir dafür erst mal nichts können. Dass wir aber definitiv was dafür können, wenn wir nichts daran ändern, wenn wir es besser wissen.

Mein Partner hat kaum Freunde – ist das ein Problem?

In der Theorie ist es schnell dahingesagt, dass man für den oder die Partner:in gerne das "Ein und Alles wäre", in Wirklichkeit scheint das aber ein ziemlich ungesunder Zustand für eine Beziehung zu sein. Schließlich ist es doch eigentlich erholsam, wenn man mehrere Menschen für unterschiedliche Bereiche des Lebens zur Verfügung hat.

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