Mehr als 230.000 Menschen sind bisher aus der Ukraine nach Deutschland geflüchtet. Und nicht nur sie, sondern oft auch ihre Haustiere. Immer wieder kursieren bewegende Bilder von der Ankunft erschöpfter Tiere in den sozialen Medien, die ihre Besitzer in Tüten, Kartons oder Boxen mit auf die Flucht genommen haben.
Denn viele Ukrainer und Ukrainerinnen wollen ihre geliebten Vierbeiner nicht im Kriegsgebiet zurücklassen und riskieren lieber eine gemeinsame Flucht. Wieder andere lassen ihre Tiere frei, weil sie nicht mehr für die Tiere aufkommen können oder Angst haben, mit ihnen nicht über die Grenze zu gelangen.
"Der Flüchtlingsstrom an der Grenze scheint nicht enden zu wollen – und etwa jeder Zwölfte trägt ein Tier bei sich“, berichtet Bernd Metzger, 2. Vorsitzender beim Bundesverband Gemeinschaft Deutscher Tierrettungsdienste. Gemeinsam mit dem Deutschen Tierschutzbund haben sie am polnisch-ukrainischen Grenzübergang Medyka ein Tierhilfe-Camp errichtet. So sehe "man Katzen untergebracht in Werkzeugkästen, Reisetaschen oder einfach am Körper getragen, Hamster und Meerschweinchen in den Taschen von Kinderjacken oder Vögel in provisorisch gebastelten Pappkartons."
Der deutsche Tierschutzbund warnte angesichts der Menge heimatloser Tiere schon am 10. März in einer Pressemitteilung, eine "nicht-humanitäre Katastrophe rollt auf die deutschen Tierheime zu". Er fordert daher den Staat dringend auf, präventiv zu handeln, da die vielen Tiere sonst "die deutschen Tierheime überfordern wird". Der Grund dafür ist, dass viele Heime oder Aufnahmezentren für Geflüchtete Haustiere verbieten, die deshalb vorübergehend in Tierheimen untergebracht werden müssen.
Lea Schmitz, Sprecherin des Deutschen Tierschutzbundes, bezeichnet die Lage auf Anfrage von watson jedoch als "einigermaßen entspannt". Es wurden schon zwar schon viele Tiere in deutschen Tierheimen aufgenommen, darunter "meist Tiere mit Besitzern, die die Tiere nicht in die Flüchtlingsunterkünfte mitnehmen können. Noch hält es sich aber in Grenzen", sagt sie.
Schmitz weist aber darauf hin, dass große Sorge bestehe, bald an Kapazitätsgrenzen zu stoßen, "wenn wirklich diese Schwierigkeit weiter besteht, dass die Menschen von ihren Tieren getrennt werden müssen." Deshalb fordert der Tierschutzbund in einem 7-Punkte-Maßnahmenkatalog auch mehr Unterstützung seitens der Politik. Dieser enthält auch die Forderung, dass Geflüchtete ihre Tiere mit in die Unterkünfte nehmen dürfen.
Das Verbot von Tieren in Aufnahmeeinrichtungen wird mit Sicherheits- und Hygienegründen, aber auch Seuchenschutz gerechtfertigt, wie die Sprecherin des Tierschutzbundes erklärt. Das Tierverbot gelte deshalb auch regulär in deutschen Obdachlosenunterkünften.
Schmitz betont, natürlich müsse man diese Zuteilung mit Augenmaß betreiben und sich danach richten, welche Tiere verträglich mit anderen Tieren und Menschen seien. Auch die Untersuchung durch einen Tierarzt sei Pflicht. Doch das Tollwutrisiko von Tieren mit Besitzern sei vom Friedrich-Löffler-Institut mit "eins zu 300.000, also verschwindend gering" eingeschätzt worden.
Trotzdem appelliert der Tierschutzbund in diesem speziellen Fall für mehr Nachsicht:
Dieser Meinung ist auch die Psychologin Silke Wechsung. Als Forschungsleiterin des Projekts "Mensch und Hund" am Psychologischen Institut der Universität Bonn ist Wechsung Expertin der wissenschaftlichen Untersuchung der Mensch-Hund-Beziehung. Gegenüber watson sagt sie:
Die Expertin für die Beziehung zwischen Mensch und Tier erklärt, gerade in besonderen Lebenssituationen, wie zum Beispiel beim Verlust eines Familienangehörigen oder bei Kindern in schwierigen Familienverhältnissen würden sich bei einer engen Beziehung zum Haustier besonders positive Effekte zeigen. "So können Tiere auch in der, durch den Ukraine-Krieg ausgelösten, emotional belastenden Lebenssituation wichtige Seelentröster und Unterstützer von Kindern und Erwachsenen sein."
Eine weitere Herausforderung für die Tierheime ist die zunehmende Zahl von Vierbeinern, die ohne Besitzer ins Land gebracht werden. "Die werden in der Grenzregion eingesammelt von Tierschützern oder Tierfreunden, weil sie quasi herrenlos zurückgelassen wurden und dann auch irgendwo unterkommen müssen", berichtet Schmitz in watson.
Dass Menschen trotz ihrer akuten Lebensbedrohung in einem Kriegsgebiet noch fremden Tieren helfen, erklärt Wechsung wie folgt: "Auch in Extremsituationen verhalten sich Menschen gegenüber anderen sozial." So zeigten Untersuchungen, dass Notsituationen die ursprüngliche Tendenz zur Kooperations- und Hilfsbereitschaft sogar noch verstärkten. Insbesondere bei besonders sozialen und uneigennützigen Menschen führe dies entsprechend zu hoher Hilfsbereitschaft, selbst in lebensbedrohlichen Situationen.
Diese Hilfsbereitschaft gelte zuallererst den nahestehenden Personen, beziehe sich aber sogar auch auf Unbekannte. Durch das extreme Ereignis entstehe eine Gemeinschaft der Betroffenen und damit verbunden eine erhöhte Hilfsbereitschaft untereinander. "So wie Menschen in Extremsituationen anderen helfen und hier zuallererst ihre Familienangehörigen schützen, so versuchen sie auch ihre Tiere zu retten", so die Psychologin.
Tierschützerin Lea Schmitz berichtet, es handele sich bei den Tieren aus der Ukraine um kleine Haustiere wie Katzen, gefolgt von Hunden – "meist kleinere Hunde, die größeren sind etwas seltener" – und auch Kleintiere wie Wellensittiche, Ratten und Meerschweinchen. Aber es gibt auch besondere Fälle wie große Tiere aus der Landwirtschaft, Kühe, Schweine oder Pferde, die von ihren Besitzern gerettet werden wollen.
Diese Rettung gelingt nicht immer, wie die Hilfsorganisation Equiwent berichtet. So sollen Anfang März 35 ukrainische Reiterinnen und Reiter versucht haben, mit ihren Pferden die Ukraine über Rumänien zu verlassen. Doch die Gruppe wurde laut Berichten bei einem Raketenangriff getötet.
Dass Menschen ihr Leben für die Rettung ihrer Tiere riskieren, ist laut Psychologin Silke Wechsung nicht ungewöhnlich:
So kann die Rettung oder Aufnahme der Haustiere auch bedeuten, die Menschen selbst zu retten. Wechsung erklärt, "dass viele Menschen nicht aus den Kriegsgebieten in der Ukraine fliehen, wenn sie ihr Haustier nicht mitnehmen können und im schlimmsten Fall unversorgt zurücklassen müssten."
Besonders gefährlich und nervenaufreibend war die Rettung der Tiere aus einem Schutzprojekt des Tierschutzbunds in Odessa, wie Lea Schmitz berichtet. Dazu gehörte auch die Evakuierung einer Kragenbärin. "Ich habe gehört, die Fahrer, die die Bärin von Kiew nach Lwiw gebracht haben, haben sich unter ihren LKW legen müssen, als es Beschuss gab. Es war schon eine heiße Nummer." Nach aller Aufregung sei diese Rettung ein schöner Erfolg gewesen.
Doch man denke auch an die anderen Tiere, die weiterhin im Kriegsgebiet sind: "Allein in der Nähe von Kiew gibt es wohl zehn bis zwölf Zoos oder zooähnliche Einrichtungen mit Löwen, Elefanten oder Giraffen, wo die Versorgung zunehmend schwierig wird, weil diese Tiere große Mengen an Futter benötigen."
Da es so schwer und auch teuer ist, Futter für die Tiere zu besorgen, beschließen einige Menschen daher, ihre Tiere lieber freizulassen, als ihr Leben zu riskieren. So auch die Pferdewirtin Julia Molokova, die nach einem Bombenangriff auf die ukrainische Stadt Irpin nahe Kiew ihre fünf Pferde einfach freiließ und in den Wald schickte.
Die Flucht ist nicht nur für die Menschen, sondern auch für ihre Haustiere sehr anstrengend: "Man sieht ihnen diese Strapazen von der Flucht an, mitunter sind die tagelang mit ihren Menschen zusammen unterwegs." Viele seien einfach erschöpft, teilweise apathisch.
Schmitz berichtet von Katzen in kleinen Boxen, Tüten und Kartons: "Wenn man die rausholt, reagieren sie gar nicht groß und wenn man sie aufrichtet, dann legen sie sich sofort wieder hin." Weitere Probleme sind Dehydration, Unterkühlung und Unterernährung, da die Tiere auf der tagelangen Flucht und bei eisigen Temperaturen kaum gefressen haben.
Auf die Kritik, man müsse zuerst an die Menschen denken, entgegnet Schmitz: "Ich glaube, es muss einfach Hand in Hand gehen. Die humanitären Organisationen, die sich um die Menschen kümmern und die Tierschutzorganisationen, die sich parallel auch um die Tiere kümmern."
Dadurch, dass man sich um die Tiere kümmert, helfe man schließlich auch den Menschen, so ihre Begründung:
Die Autorin Katharina Martin-Virolainen, selbst Tierliebhaberin und Katzenbesitzer, hat in einer Privatinitiative mit angepackt, um den verlassenen Tieren zu helfen. Bei der Organisation eines Hilfstransports mit Medikamenten und Lebensmitteln für Zhytomyr und das Dorf Poljanka kam ihr zu Ohren, dass viele Menschen auf der Flucht aus der Ukraine ihre Tiere zurücklassen. "Es tat mir im Herzen sehr weh, denn ich bin selbst zweifache Katzenmama und der Gedanke, dass ich meine Elsa und meine Emil allein lassen müsste, war schrecklich", sagt sie gegenüber watson.
Die Autorin mit russischen und finnischen Wurzeln betont, sie wollte auf keinen Fall die Menschen verurteilen, die ihre Tiere zurücklassen. "In einem Krieg weiß man nie, was man selbst getan hätte. Mir ging es dabei um die verlassenen Tiere und auch um die wundervollen Menschen, die sich gerade für die Kleinen engagieren." Sie selbst habe großen Respekt für die Menschen, die gerade Tiere aufnehmen würden, obwohl sie Schwierigkeiten hätten, sich selbst zu versorgen.
Martin-Virolainen berichtet davon, wie ihre Hilfsaktion zustande kam:
Die Spendenaktion war ein voller Erfolg: "Nach nicht einmal einer Woche war dieses Eck schon so überladen, dass Mandy mir einen Teil der Sachen vorbeibringen musste. Das Auto war von unten bis bis oben voll! Und es wird immer weiter gespendet!", freut sich die Autorin. "Die Menschen sind einfach wundervoll."
Am Wochenende habe sich dann eine Frau namens Tatjana bei ihr gemeldet und erzählt, sie hätte Freunde in Odessa, die sich dort ehrenamtlich um verlassene und verletzte Tiere kümmern würden. "Auch ihnen mangelt es an allem."
Nach einer schnellen Absprache wurde dann kurzerhand auch ein Transport für die Tiere nach Odessa geschickt.
Die Spendenaktion für verlassene Tiere in Not läuft weiter und auch ein Transport nach Zhytomyr ist geplant, wie Martin-Virolainen berichtet. "Dann können wir auch dort den Tierheimen und Menschen, die die Initiative in eigene Hand genommen haben, helfen."