"Ich muss früher los, ich hab heute Therapie." Solche Sätze vom Arbeitskollegen oder -kollegin waren früher unvorstellbar. Eine Psychotherapie war etwas, dass man heimlich machte und ohne ein Wort darüber zu verlieren.
Zur Therapie zu gehen, ist heutzutage aber kein Tabu mehr. Gerade die jüngere Generation redet offen über die eigenen psychischen Herausforderungen und setzt sich aktiv damit auseinander. Auch Selbsthilfe-Bücher wie "Ein Guter Plan" schlagen vor, eine Psychotherapie solle am besten so normal werden wie der jährliche Check-up beim Zahnarzt.
Doch was viele junge Menschen vorher nicht bedenken: Dass sie nach einer Psychotherapie möglicherweise keine Berufsunfähigkeitsversicherung (BU) mehr bekommen. Oder nur zu sehr hohen Raten.
"Das ist schon seit Jahren ein großes Problem. Ich habe immer wieder Patienten, denen das so passiert ist", bestätigt Christa Roth-Sackenheim, die Vorsitzende des Berufsverbands Deutscher Psychiater, im Gespräch mit watson.
Laut Gesamtverband der deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) haben im Jahr 2020 neu Versicherte ihre Berufsunfähigkeitsversicherung im Schnitt mit 28 Jahren abgeschlossen. Für eine BU ist das fast schon zu spät, denn jede ernstere Erkrankung kann zum Ausschlussgrund für den zu Versichernden werden.
Wenn man jung und fit ist, denkt man meist nicht daran, irgendwann einmal berufsunfähig zu werden. Doch psychische Probleme beginnen möglicherweise schon früh und eine Behandlung kann dann zum Verhängnis werden.
"Es ist auffällig, dass Depressionen, Burnout oder andere Nervenleiden mittlerweile bereits in einer sehr frühen Lebensphase auftreten und Auswirkungen auf die Erwerbssituation haben", sagt Stefan Holzer, Mitglied der Geschäftsleitung von Swiss Life Deutschland.
Nach einer repräsentativen YouGov-Umfrage im Auftrag der Versicherung Swiss Life erkranken insbesondere junge Menschen psychisch. Demnach sagte ein Fünftel der 18- bis 24-Jährigen, dass sie langfristig oder chronisch von Burnout, Stress, Depressionen oder Nervenleiden betroffen seien. In der mittleren Altersgruppe zwischen 25 und 54 Jahren war es sogar ein Viertel.
Auch der 23-jährigen Anna aus Berlin erging es so. Sie berichtet watson:
Dazu gehörte beispielsweise eine Reha wegen einer Knieverletzung oder eine Kinder- und Jugendtherapie mit 16 Jahren. Doch Annas Vater vergaß, die Unterlagen zur Berufsunfähigkeitsversicherung einzureichen. Ein Versäumnis, unter dem sie heute noch zu leiden hat.
An sich ist es eine positive Entwicklung, dass es kein Tabu mehr ist, sich bei Problemen professionelle Hilfe zu suchen. Doch die Kehrseite ist, dass man sich nach einer Therapie, je nach Anbieter, fünf bis zehn Jahre lang nicht mehr für eine BU versichern lassen kann.
Warum das so ist, fragen wir Holger Brendel, Sprecher der Versicherung Huk Coburg. Er bleibt hier auf Nachfrage von watson aber vage, beruft sich auf individuelle Einschätzungen und sagt:
Die nüchterne Antwort ist also: Man hat bei vorheriger Therapie ein höheres Risiko, in der Zukunft berufsunfähig zu werden. Psychische Leiden sind nach Analyse der Swiss-Life-Kundendaten mit 37 Prozent häufigste Ursache für Berufsunfähigkeit – dies deckt sich auch mit den Erhebungen anderer Versicherer.
Eine Untersuchung der Deutschen Aktuarvereinigung, der berufsständischen Vertretung der in Deutschland tätigen Versicherungs-, Bauspar- und Finanzmathematiker, von 2018 ergibt: "Jeder Vierte wird in seinem Leben mindestens einmal berufsunfähig." Viele davon wegen psychischen Problemen.
"Circa 35 Prozent der Leistungsfälle sind auf Grund psychischer Erkrankungen nicht mehr in der Lage, ihren Beruf auszuüben. Die Zahl gilt aber über alle Altersstufen der Versicherten", sagt auch der Sprecher der Huk Coburg, Holger Brendel.
Stefan Lutter, Sprecher der Hannoversche-Versicherung sagt auf Anfrage von watson, bei der Abschätzung des individuellen statistischen Risikos "spielt auch die Art der (psychischen) Vorerkrankung und die daraus resultierende Prognose eine große Rolle." Und gibt zu: "Aber es ist auch richtig, dass wir im Interesse der Versichertengemeinschaft Anträge ablehnen müssen, die ein zu hohes oder nicht kalkulierbares Risiko darstellen."
Lutter betont dennoch, branchenweit und über alle Altersgruppen hinweg, wurden laut Erhebungen des Gesamtverbands der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) 2019 lediglich vier Prozent aller Anträge abgelehnt.
Anna beschloss irgendwann, selbst aktiv zu werden, um sich für den Fall einer Berufsunfähigkeit abzusichern: "Weil ich mittlerweile auch ADHS diagnostiziert habe. Da ist es gar nicht so unwahrscheinlich, dass ich irgendwann aufgrund meiner Psyche entweder nur noch sehr wenig arbeiten kann oder vielleicht irgendwann sogar arbeitsunfähig werde, weil ich das einfach nicht mehr gebacken kriege."
Ihr Mittel der Wahl für eine private Absicherung: finanzielle Anlagen wie ETFs (Exchange-Traded Fund – börsengehandelte Fonds).
Christa Roth-Sackenheim findet den aktuellen Zustand "nach wie vor einen Skandal". Obwohl psychologische Berufsverbände und Fachgesellschaften bereits vor einigen Jahren einen Kongress mit der Bundesärztekammer und Vertretern der Versicherungswirtschaft zum Thema Berufsunfähigkeitsversicherung veranstaltet hatten, habe sich immer noch nichts geändert.
Das allgemeine Prinzip bleibt also: Wenn jemand an Diabetes leidet, Rückenprobleme hat oder psychische Probleme, dann bekommt er entweder gar keine BU, eine extrem teure oder eine, die alle Leistungen im Zusammenhang mit der jeweiligen Vorerkrankung ausschließt.
Dabei ergibt das überhaupt keinen Sinn, findet die Expertin Christa Roth-Sackenheim. Denn eine Therapie führe ja dazu, dass es später nicht zu noch schlimmeren Problemen komme: "Es hat einen langfristigen präventiven Effekt."
Dass die Versicherer das selbst irgendwann mal erkennen, glaube sie allerdings nicht. Es bleibt vermutlich an den Betroffen hängen: "Ich denke, irgendwann muss jemand klagen und das bis zum Ende durchführen, sonst wird sich da nichts ändern."
Die Psychologin sagt: "Insofern kläre ich tatsächlich Patienten in der Situation auch auf, sich zu überlegen, die Behandlung zu verschieben oder gegebenenfalls privat zu zahlen, einfach weil diese Möglichkeiten der Benachteiligung bestehen."
Wegen der BU mit der Therapie zu warten, kam für Anna jedoch nicht in Frage: "Dieser Klinikaufenthalt war wirklich notwendig, weil ich wirklich starke Panikattacken hatte und die behandelt werden mussten. Dafür wurde ich jetzt im Nachhinein krass bestraft."