An einem sonnigen Montagnachmittag im März malt die freiwillige Helferin Doris Reim mit ein paar Kindern bunte Peace-Zeichen mit Kreide auf den Gehsteig vor einem nüchternen roten Backsteingebäude. Das Haus aus den 20erJahren gehört zur evangelischen Markus-Gemeinde und ist die Diakonie-Station des Berliner Stadtteils Steglitz. Seit zehn Tagen befindet sich hier das Zuhause von aktuell 60 Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine.
Auf dem Tisch im Eingang steht eine Glasvase mit einem Strauß gelber Tulpen. Der Tisch ist übersät mit Post it-Zettelchen, darauf kurze Botschaften in deutscher und ukrainischer Sprache, rechts daneben unter der Treppe stapeln sich Buggys und eine Kindermatratze. Vieles scheint improvisiert, dennoch ist die Stimmung entspannt, geradezu friedlich.
Man hört lachende Kinder aus dem ersten Stock, ein Junge läuft in Socken die Treppe hoch. Helfer mit gelben Westen unterhalten sich, organisieren und ordnen mit ruhiger Geschäftigkeit. Wüsste man es nicht besser, würde man hier eher ein bilinguales Pfadfinderlager vermuten. Aber es handelt sich um ein Notlager für Kriegsflüchtlinge. Um ihnen eine erste Anlaufstation zu bieten, hat Pfarrerin Carolin Marie Göpfert von der evangelischen Markus-Kirchengemeinde in ihrer Diakonie-Station am Steglitzer Stadtpark eine vorübergehende Notunterkunft für bis zu 100 Menschen eingerichtet.
Da Berlin nach wie vor die erste Station der meisten Geflüchteten aus der Ukraine ist, ist hier der akute Handlungsbedarf besonders gegeben. 232.462 aus der Ukraine geflüchtete Menschen zählte die Bundespolizei laut Bundesinnenministerium bis Dienstag insgesamt. Die Zahl ergibt allerdings nur ein lückenhaftes Bild, da es auch in Bezug auf Geflüchtete derzeit keine festen Grenzkontrollen zum EU-Nachbarn Polen gibt.
Obwohl aktuell täglich etwa 7000 Menschen auf der Suche nach Schutz die Grenze nach Deutschland überqueren, ist die Finanzierung von Unterbringung und Versorgung noch nicht geklärt.
Pfarrerin Göpfert erklärt watson die aktuelle Belegungsituation in ihrem Aufnahmelager:
Da die Notunterkunft nicht als dauerhafte Bleibe gedacht ist, sondern nur zum Ankommen, reisen einige der Geflüchteten gleich weiter, wenn sie sich erholt haben. Doch die meisten brauchten ein bis drei Tage brauchen, bis sie sich erholt, genug geschlafen und gegessen haben, so die Pfarrerin im Gespräch mit watson. "Dann schauen die Menschen, wie es weitergeht. Jeden Tag reisen Menschen ab und jeden Tag kommen Neue dazu." Unter den freiwilligen Helfern, viele ältere Menschen und Rentner aus der Gemeinde, wie Pfarrerin Göpfert sagt, herrscht Betriebsamkeit, doch von Unruhe ist vor Ort nichts zu spüren.
"Es ist ein offenes Haus für die Geflüchteten. Das heißt, sie können ankommen und können auch jederzeit wieder gehen. Manche gehen nach einer Nacht, andere sind jetzt schon zehn Tage hier", sagt Carolin Göpfert. Wie lange die Menschen tatsächlich bleiben, hänge immer davon ab, wie gut sie sich selbst vernetzen können. Für manche muss eine Unterkunft erst gefunden werden, andere Menschen reisen weiter zu Verwandten oder Bekannten.
"Einige haben Verwandte in aller Welt und versuchen dann von Berlin aus dorthin zu kommen. Letzte Woche ist zum Beispiel eine Familie in die Türkei geflogen zu ihren Verwandten, heute ist eine nach Mexiko weitergereist", so die Pfarrerin. Viele Menschen kümmern sich selbst um eine Bleibe. "Doch manche Geflüchtete kommen aktiv auf uns zu und sagen: 'Wir wollen gerne irgendwo privat unterkommen. Habt ihr einen Kontakt? Könnt ihr uns weiter vermitteln? Wir wollen uns integrieren, wir wollen gerne anfangen zu arbeiten.'"
Eigeninitiative ist das Stichwort der Stunde, sowohl aus der Zivilgesellschaft als auch seitens der Flüchtlinge: Bund und Länder hatten sich vergangene Woche auf eine Arbeitsgruppe zur Finanzierungsfrage verständigt, die bis zu den nächsten Beratungen von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) mit den Ministerpräsidentinnen und -präsidenten der Länder Ergebnisse vorlegen soll.
Der Präsident des Deutschen Städtetags, Markus Lewe, forderte in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" vom Dienstag, schon jetzt die Grundlagen für die mittel- bis langfristige Integration von Geflüchteten aus der Ukraine vorzubereiten. "Nach der unmittelbaren Nothilfe müssen auch gleich von Anfang an die richtigen Weichen gestellt werden", sagte er. Es gehe darum, "Wohnraum und Arbeitsmöglichkeiten zu schaffen und den Kindern den Besuch von Schule und Kita zu ermöglichen."
Für den Moment ist daher zivilgesellschaftliches Engagement um so wichtiger und wertvoller: Die Steglitzer Markus-Gemeinde hat viele private Beherbergungsangebote erhalten. Von Menschen, die gehört haben, dass hier eine Flüchtlingsnotunterkunft eingerichtet wird.
Die Meldung einer privaten Unterkunft läuft aktuell über eine Maske im Internet, über die sich potentielle Gastgeber eintragen können: Was man genau anbietet, für welchem Zeitraum und auch für wie viele man Unterschlupf bieten könne. Dann versucht die Markus-Gemeinde zu vermitteln, wenn möglich so, dass es auch erst mal eine Weile hält. Denn wer weiß schon, was kommt und wie lange der Krieg in der Ukraine noch dauert?
Pfarrerin Göpfert erklärt:
Im Moment wisse man ja nicht, ob die die Geflüchteten dauerhaft hier bleiben oder ob sie wieder zurückgehen. Carolin Göpfert ist gut vernetzt mit den Kirchengemeinden in Steglitz und ganz Berlin-Brandenburg. Es gibt inzwischen einige Gemeinden, die Notunterkünfte für Geflüchtete aufgebaut haben, viele aber in kleinerem Rahmen.
Es sollen immer mehr unbegleitete Kinder und Jugendliche kommen, die von ihren Eltern allein ins sichere Deutschland geschickt werden – während die Mütter und Väter zurückbleiben, um für ihr Land zu kämpfen. "Unbegleitete Kinder und Jugendliche sind in unserem Haus noch nicht angekommen," sagt aber Carolin Göpfert.
Die Menschen seien bei ihrer Ankunft innerlich immer noch auf der Flucht, berichtet die Pfarrerin.
Die Diakonie-Station versorgt sonst rund 200 alte und pflegebedürftige Menschen aus der Gemeinde. Aus diesem Grund gibt es im Haus eine Pflegestation mit Krankenschwestern und es besteht Kontakt zu Ärzten und Ärztinnen, die mit der Gemeinde kooperieren. Diese können nun auch den Geflüchteten helfen. "Die gucken dann bei den Fällen, wo wir denken, da ist es ganz dringend, dass jemand schaut, wie es denen geht. Manche sagen auch, sie wollen gerne einen Arzt auf ihre Kinder schauen lassen. Dann versuchen wir das zu organisieren", berichtet Göpfert.
Dass das notwendig ist, bestätigt auch die Küsterin der Gemeinde, Jana Gampe, im Gespräch mit watson. "Während der Nacht hört man immer wieder, wie sich Menschen übergeben." Sie führt das auf die traumatischen Erlebnisse der Geflüchteten zurück, die dann im Schlaf hochkommen.
Jana Gampe führt durchs Haus in den großen Gemeindesaal. Im Treppenhaus und auf einem Tisch im Eingang des großen Gemeindesaals, wo nun 60 Feldbetten für die Gäste bereit stehen, sind Vasen mit Tulpen aufgestellt. Man gibt sich Mühe, ein Heim zu bieten, wenn auch nur ein vorübergehendes.
Sonst wird der hohe Raum unterm Dach des Gemeindehauses bisweilen für Gottesdienste genutzt. Kriegsopfer sieht der Saal nicht zum ersten Mal: 1945 war hier ein Lazarett untergebracht. Der Saal ist durch eine riesige Schiebewand unterteilt, die bei Bedarf auch ganz geschlossen werden kann.
Neben der Tür stehen, noch verpackt in Kartons, Paravents aus Holz. "Die müssen wir noch auspacken und aufstellen", sagt die Küsterin. Denn, so auch die Pfarrerin Carolin Göpfert im Gespräch mit watson, der Gemeindesaal sei schon ein Massenschlaflager. Daher hätten sie jetzt verschiedene kleine Paravents organisiert, damit sich die Menschen wenigsten ein bisschen abgrenzen können.
Im ersten Stock des Gemeindehauses befinden sich mehrere Räume in unterschiedlicher Größe, darunter auch die Rückzugsräume für die ankommenden Familien. Dort, wo normalerweise Eltern mit ihren Babys zu Pekip-Kursen kommen und der Konfirmationsunterricht für die Kinder der Gemeinde stattfindet, sind nun zwei Spielzimmer für die geflüchteten Kinder eingerichtet.
Es gibt jede Menge gespendetes Spielzeug und Bücher, darunter sogar russische und ukrainische Kinderbücher. Die Diakonie hat einen eigenen Garten, wo die Familien sich aufhalten und die Kinder spielen können.
Im Foyer und in den Nebenräumen im Erdgeschoß sind all die gespendeten Sachen untergebracht, die man zum täglichen Leben braucht. Kleidung, Essen und Hygieneprodukte werden von freiwilligen Helfern in Kisten, Regalen und auf Kleiderständern geordnet und zur Verfügung gestellt. Hier können die Geflüchteten sich einfach nehmen, was sie brauchen. Denn nicht alle Ankommenden hatten vor ihrer Flucht noch Zeit, ihr Hab und Gut in Koffer zu packen. "Manche kommen nur mit Plastiktüten an", erzählt die Küsterin Jana Gampe.
Das bestätigt auch Pfarrerin Göpfert gegenüber watson: "Viele brauchen erst mal frische Sachen, wenn sie kommen und dann suchen sie sich das raus, was sie brauchen. Wir können hier alle gut versorgen, die zu uns kommen."
Nach einer Pressemitteilung über die Einrichtung eines Aufnahmelagers im Gemeindehaus, die im Tagesspiegel veröffentlicht wurde, kamen plötzlich Menschen aus ganz Berlin. "Es kommen weiter jeden Tag Spenden. Der Spendenboom ist aber durch den Artikel im Tagesspiegel gekommen. Am vergangenen Samstag kamen so viele Menschen – das war überwältigend", erzählt Carolin Göpfert.
Der Bedarf an Bettdecken, Kopfkissen, Bettwäsche und Handtücher sei durch die Spenden nun erst mal gedeckt. Die Gemeinde werde künftig davon absehen, eine generelle Liste herauszugeben, wie sie das am Anfang gemacht hatten. "Jetzt bitten wir nur noch gezielt um Spenden: Wir haben eine Liste, auf der steht, dass wir zum Beispiel um 20 kg Kartoffeln bitten, weil wir gemerkt haben, dass unsere Gäste gerne Kartoffeln essen", so Pfarrerin Göpfert im Gespräch mit watson.
Die zivilgesellschaftlich organisierte Flüchtlingshilfe wird bis zu einer finanziellen Lösung von Bund und Ländern wohl auch weiterhin auf die Spendenbereitschaft der Bevölkerung angewiesen sein. Eine weitere finanzielle Initiative kam am Mittwoch aus der EU: Zur Finanzierung der Flüchtlingsversorgung schlug die EU-Kommission vor, die Auszahlung weiterer 3,4 Milliarden Euro aus dem sogenannten React-EU-Paket vorzuziehen, das eigentlich zur Bewältigung der Corona-Krise gedacht ist.
(mit Material der afp und der dpa)