Seval bekam eine zweite Chance, nachdem sie an Leukämie erkrankte. Bild: privat / privat
Nah dran
Seval Can
Jemandem das Leben zu retten, den man gar nicht kennt, ist ein selbstloser Akt. Aber für den Geretteten ist es noch viel mehr: Für Seval Can zum Beispiel bedeutet es, dass sie weiter die Mutter ihrer Tochter sein kann. Und eine Pflegerin für die Senioren, mit denen sie arbeitet. Es bedeutet auch: Spaziergänge. Sonnenschein erleben. Gutes Essen genießen.
Seval Can (34)Bild: privat / privat
Wie sagt man Danke für all diese Dinge? Seval Cal weiß es. Inmitten der Coronazeit fand sie einen Weg, um mit ihrer ganz persönlichen Heldin zu sprechen. Diese spendete ihr die lebenswichtigen Stammzellen, die Seval unbedingt brauchte. Im Protokoll bei watson erzählt die 34-Jährige ihre Geschichte.
"Sie ist nicht irgendwer. Nicht nur irgendeine Freundin. Sie ist die Frau, die mich zurück ins Leben geholt hat."
Diagnose: Todkrank
Mein Leben verlief eigentlich recht normal, bis zum November 2017. Da erfuhr ich, dass ich krank bin, todkrank. Es bahnte sich schon an: Die Wochen vorher lag ich ständig flach, war schlapp und eine Krankheit folgte auf die nächste. Das war ungewöhnlich, schließlich war ich sonst immer topfit mit meinen Anfang 30. Am 14. November, einem Dienstag, schleppte ich mich dennoch zur Arbeit als Altenpflegerin, wo zufällig die wöchentliche Visite der Ärztin anstand. Als die mich blass und schlapp im Flur antraf, sprach sie mich direkt an: "Seval, du siehst gar nicht gut aus. Bitte komm heute Abend mal in meine Praxis." Sie stellte eine Blutarmut fest und verschrieb mir Eisentabletten – leider ging es die nächsten Tage aber weiter bergab.
Am Freitag lagen ich und meine Tochter dann beide krank zu Hause. Sie hatte eine Mandelentzündung und ich fühlte mich elend, nachts wurde es immer extremer. Ich bin alleinerziehend und wollte keinen Krankenwagen rufen, weil ich wusste, dass es Emma, die damals vier Jahre alt war, zu Tode erschreckt hätte, mitten in der Nacht Sanitäter kommen zu sehen. Also beschloss ich durchzuhalten, bis Emmas Oma am nächsten Tag zum Babysitten käme.
Kaum war sie zur Tür hereingekommen, brach ich zusammen. Ein Rettungswagen brachte mich ins Krankenhaus. Die Ärzte dort sagten mir später, sie hätten auf den ersten Blick erkennen können, was bei mir los war: Eine akute Leukämie. Sagen konnten sie es mir natürlich erst nach den entsprechenden Untersuchungen, so eine tödliche Diagnose braucht man schließlich schwarz auf weiß.
Ich erinnere mich, wie mein Arzt mir erklärte, dass ich todkrank sei. Diesen Moment am 20. November werde ich nie vergessen. Emma war mein erster Gedanke. Meine kleine Emma. "Ist das erblich?", war die allererste Frage. Er sagte Nein. Trotzdem habe ich an diesem einen Tag unheimlich viel geweint, es kam eine Träne nach der anderen. Bis ich mir selbst sagte: "Hör auf. Das ist keine Lösung." Ich fragte meinen Arzt ganz direkt: "Kann ich es schaffen?" Und er sagte: "Ja, Sie können es schaffen. Die Chancen stehen fifty-fifty, aber es ist möglich." Ab dem Moment fing ich an zu kämpfen.
Seval mit ihrer Tochter Emma an Halloween 2019Bild: privat / privat
Durch eine Knochenmarkpunktuation wurde die Art meiner Leukämie bestimmt, dann begann die Chemotherapie. Eine Stammzellentransplantation sei zwar anstrengend für den Körper, sagte mein Arzt, aber ich sei noch jung und könne sie überleben. Es würde mir das Leben retten können. Mein Bruder, der bereits als Stammzellenspender registriert war, passte leider nur zu 50 Prozent auf meine Merkmale. Ich brauchte also einen Fremdspender und so machte sich die DKMS auf die Suche.
Ein Held, den man nicht kennen darf
Die Nachricht, dass ein geeigneter Spender gefunden wurde, erhielt ich ziemlich schnell. Ich hatte riesiges Glück! Doch wer der Spender ist, der mir mein Leben rettet, wusste ich nicht. Da ich türkischstämmig bin, dachte ich, vielleicht sei es ebenfalls eine türkische Person, die ähnliche Gewebemerkmale aufweist. Aber das waren alles nur Vermutungen, denn zwei Jahre lang bleiben all diese Informationen anonym. Es ist sehr komisch, wenn man nicht weiß, ob einem ein Mann oder eine Frau das Leben gerettet hat, ein Deutscher oder vielleicht jemand vom anderen Ende der Welt. Es könnte jeder Passant auf der Straße sein – das hat mich schon beschäftigt. So ein großes Geschenk und dann kann man sich nicht einmal bedanken.
Die Spenderin, von der Seval nichts wusste: Sabrina bei der Stammzellspende in Nürnberg, im Februar 2018Bild: privat / privat
Das erste Jahr nach der Stammzellentransplantation verlief schleppend. Ich musste Medikamente nehmen, die das Immunsystem unterdrücken, war insgesamt schwach. Noch heute muss ich Pausen machen, wenn ich zum Beispiel die Wohnung putze, aber es wird immer besser. Am schwierigsten war diese Zeit sicher für Emma. Sie erlebte die ganze Prozedur in der Klinik, sah wie meine langen Locken ausfielen und musste drei Monate lang bei ihren Großeltern sein, während ich in Behandlung war. Mama ist todkrank, soviel hat sie verstanden. Aber eben auch: Es gibt eine Person, die Mama jetzt das Leben rettet.
"Ich habe mir immer eine Schwester gewünscht und nun habe ich sie bekommen."
Diese Person war für uns alle ungesehen ein Mitglied der Familie geworden. Wir haben immer über sie gesprochen. Das Merkwürdige war, dass ich immer eine Nähe zu ihr empfand, obwohl ich nicht wusste, um wen es sich handelt. Ich bin nun für immer ein Teil von ihr. Das ist ein außergewöhnliches Gefühl.
Als die zwei Jahre um waren, habe ich direkt eine Dankes-Karte an die DKMS weitergegeben, um sie dem Spender zukommen zu lassen. So erfuhr ich zum ersten Mal, dass es sich um jemanden aus Deutschland handeln muss, denn meine Frage, ob ich Englisch schreiben müsste, wurde verneint. Und ziemlich bald hatte ich auch schon die Antwort in der Hand – mit Adresse und Telefonnummer!
Wie sagt man Danke für ein ganzes Leben?
Es war für mich wirklich sehr besonders. Ich saß am Abend mit meiner Freundin zusammen, hatte diese Daten vor mir und das unbedingte Gefühl, dass ich diese Person kennenlernen wollte. Meine Freundin sagte: "Du wartest schon so lange! Schreib einfach. Für Helden gibt es keine richtige oder falsche Zeit." Und so sendete ich meine erste WhatsApp-Nachricht an Sabrina.
Die Erkenntnis, dass eine Frau in meinem Alter war, ebenfalls Mutter, war aufregend. Wir haben mehr gemein als nur unsere Zellenstruktur. Ich dachte: Ich habe mir immer eine Schwester gewünscht und nun habe ich sie bekommen. Wie sagt man Danke zu so jemanden? Die Wahrheit ist, man kann es gar nicht. Es gibt keine angemessenen Worte dafür, dass ich ohne sie vielleicht tot wäre. Noch dazu ist Sabrina so bescheiden: "Ach, ich habe doch gar nicht viel gemacht." Das sagt sie immer. Aber sie hat alles verändert. Nicht nur mein Leben, auch das von Emma wurde durch ihren Einsatz für einen fremden Menschen besser.
Sabrina mit ihrer Familie: Sohn Tim (5), Mann Bastian (36) und Tochter Lina, sechs MonateBild: privat / privat
Weil es mitten in der Coronazeit war, konnten wir uns bislang nicht begegnen, aber ich wollte sie unbedingt sehen. Also haben wir uns für einen Videochat getroffen. Was das in mir auslöste, kann man gar nicht beschreiben. Wir haben gar nicht viel gesprochen. Uns einfach nur angeschaut und dann lachen müssen. Ich glaube, wir beide waren sehr emotional, haben nur versucht, bloß nicht zu weinen. Die Kinder schauten hinter unseren Köpfen über unsere Schultern. Sabrina hat ihrem Sohn erklärt: "Weißt du noch, als Mama ins Krankenhaus musste? Diese Frau dort brauchte meine Hilfe." Er ist so süß, er wollte uns dann direkt treffen. Wenn es endlich wieder möglich ist, werden wir das auch tun.
"Mama ist todkrank, soviel hat sie verstanden. Aber eben auch: Es gibt eine Person, die Mama jetzt das Leben rettet."
Es ist schon toll, dass Sabrina und ich nun jederzeit sprechen können, aber ich freue mich darauf, sie einmal vor mir stehen zu sehen und umarmen zu können. Worte können so schlecht ausdrücken, was ich empfinde: Sie ist nicht irgendwer. Nicht nur irgendeine Freundin. Sie ist die Frau, die mich zurück ins Leben geholt hat.
Protokoll: Julia Dombrowsky
Du willst dich bei der DKMS als Spender registrieren lassen?
Grundsätzlich kann jeder gesunde Mensch, der zwischen 17 und 55 Jahren alt ist und nicht bereits bei der DKMS oder einer anderen Datei registriert ist, Stammzellspender werden. Wer online das Registrierungsset bestellt, bekommt ein Wattestäbchen nach Hause geschickt. Mit diesem entnimmt man sich selbst eine Speichelprobe und schickt es zurück. Mehr unter:
www.dkms.de/de/spender-werden