Agnes ging für ihren zukünftigen Mann Bernd nach Deutschland. Bild: privat
"Grenzenlos" – Ost-West-Liebesgeschichten
"Ich habe ihn gesehen und dachte: den oder keinen!" Mit Agnes’ erstem Blick auf Bernd beginnen 40 aufregende Jahre – die in einem ganz neuen Leben in Deutschland enden. Wie eine Ungarin ihre Heimat aufgab und für ihren Mann in die DDR zog.
kinga rustler
Agnes war 23 Jahre alt, Ungarin, fertig mit der Uni, im ersten Job – als sie den Mann ihres Lebens traf. Den Mann, der ihr eine gemeinsame Zukunft, zum ersten Mal ein eigenständiges Leben und schließlich auch eine Familie schenken sollte.
Sie sah ihn das erste Mal auf einem Rollfeld des ungarischen Flugplatzes in Budapest. Im Januar 1977. Agnes war zu dem Zeitpunkt ausgebildete Gymnasiallehrerin für Deutsch, Ungarisch und Skandinavistik. Doch weil sie keine Stelle in der Provinz annehmen und lieber in der Hauptstadt arbeiten wollte, fand sie als Lehrerin keine geeignete Position.
Agnes nahm einen Auftrag an – schwarz
So ließ sie sich in ihrem Nebenjob fest anstellen: Sie arbeitete als Reiseleiterin. "Das war ein super Job. Man wurde sogar bezahlt, wenn man im Winter keine Arbeit hatte", schwärmt sie heute. Trotzdem nahm sie einen Auftrag des ungarischen Fernsehens schwarz an und sollte für eine Delegation des DDR-Fernsehens dolmetschen. Ihr Deutsch war ausgezeichnet, ein kleiner Akzent blieb jedoch bis heute bestehen.
"Und dann stand er da plötzlich, vor dem Flugzeug."
Die Gruppe aus der DDR wollte eine Woche lang einen Film über die berühmten heißen Thermalquellen in Budapest drehen. Auch Bernd war als Beleuchter dabei. Der studierte Elektroingenieur hatte die Reise für seine guten Leistungen geschenkt bekommen. "Und dann stand er da plötzlich, vor dem Flugzeug", erinnert sich Agnes, als wäre es gestern gewesen.
Sie konnte nach Westberlin, doch sie ging nicht hin
Sie hatte eine Woche, um ihn von sich zu überzeugen. Auf natürliche Art kamen sie sich näher. Hier ein Kaffee, da ein paar Mitbringsel für zu Hause. Nach der Woche war klar, dass sie sich wiedersehen wollten. Doch die Distanz zwischen Budapest und Ost-Berlin, wo Bernd lebte, war zu groß. 761 Kilometer von Wohnung zu Wohnung. Gut, dass Agnes zu dem Zeitpunkt einen Auftrag der Universität Budapest bekam, in der Berliner Staatsbibliothek ein paar Recherchen zu unternehmen.
Zwei Wochen blieb sie in Berlin. Sie wohnte bei Bernd, lernte die Großstadt kennen. Damals insbesondere den Ostteil. Obwohl es ihr mit einem ungarischen Pass und Visum möglich war, nach Westberlin zu reisen, verbrachte sie dort nicht sehr viel Zeit. Denn Bernd durfte ja nicht einreisen.
Danach war es für das junge Paar nicht einfach, die Beziehung aufrechtzuerhalten. Doch der Wille blieb. Alle zwei bis drei Monate konnten sie sich ein, zwei Wochen sehen. Da Bernd kein Telefon hatte, musste er auf die örtliche Poststation gehen, um immer mal wieder zehn Minuten mit seiner Freundin sprechen zu können. "Teuer war das nicht, aber hinter ihm haben ja noch viele andere Menschen gewartet. Er konnte nicht einfach das Telefon für eine halbe Stunde blockieren."
"Das ist doch kein Leben, sich alle drei Monate eine Woche zu sehen"
Heute ist diese Situation kaum mehr vorstellbar. Smartphones, Internet, digitaler Ausbau. Doch damals: "Es gab einfach zu wenig Telefone und zu wenig freie Leitungen. Wir hatten bis in die frühen 90er-Jahre keinen eigenen Apparat", sagt Agnes. "Auch ich habe später immer wieder bei der Telekommunikationsbehörde vorgesprochen, unendlich viele Anträge gestellt, aber es war nichts zu machen."
Wenn sie dann später beruflich einen Auftrag als Dolmetscherin in der DDR bekam, wurde ihr ein Telegramm geschickt mit der "Bitte um Rückruf".
"Dann habe ich mich entschieden, in die DDR zu ziehen."
Die Pendelei und die vielen Wochen getrennt nagten an den Nerven des jungen Paares. "Das ist doch kein Leben, sich alle drei Monate eine Woche zu sehen. Dann habe ich mich entschieden, in die DDR zu ziehen." Dass Bernd nach Budapest auswandern würde, stand nicht zur Debatte. "Er hätte die Sprache lernen können, aber als Elektroingenieur wäre die Fachsprache viel zu komplex gewesen. Und ich konnte ja bereits einwandfrei Deutsch."
Bei der Hochzeit verstand er kein Wort
Sie habe sich das lange überlegt, sagt sie. "Natürlich fiel es mir sehr schwer, mein Land, meine Familie zu verlassen, aber ich habe ihn geliebt." In die DDR einzuwandern ging jedoch nur mit einer Hochzeit. "Die Möglichkeit, den Wohnort einfach so zu wechseln, auch noch in einem anderen Land zu leben, das war damals unmöglich."
Heiraten war beiden eigentlich nicht wichtig. "Das Papier, meine ich. Wir wären auch so zusammengezogen, aber eine Hochzeit war unsere einzige Möglichkeit." Am 10. Juni 1978 standen sie auf dem Standesamt in Budapest. Bernd verstand kein Wort, setzte nur seine Unterschrift auf das offizielle Dokument. Am Ende waren sie glücklich.
Das Museum prüfte vor der Ausreise das Geschirr
Ein halbes Jahr danach sprach Agnes in der Botschaft der DDR vor, um eine Einreisegenehmigung zu erhalten. In Budapest musste sie die ganzen Gegenstände, die sie nach Deutschland mitnehmen wollte, vorzeigen. Das Geschirr zum Beispiel wollte das Museum für Kunstgewerbe sehen. "Nicht, dass ich etwas Wertvolles aus dem Land gebracht hätte", sagt sie heute lachend.
Ein Sachverständiger drückte auf alles, was er sehen konnte, einen Stempel. "Dann musste ich mit den Sachen – ich glaub, das waren letztendlich zwölf Koffer – zum Zollamt. Sie haben alles in Kisten verpackt, versiegelt und dann in die DDR gebracht."
"Die auf sich gestellten Leute waren damals verdächtig."
Einmal war sie in der "Tagesschau" der DDR zusehen
Das erste Jahr in Deutschland war für Agnes schwierig, beruflich gesehen. Weil sie keine Anstellung als Lehrerin oder Dolmetscherin fand, bekam sie eine Zulassung als freiberufliche Dolmetscherin. "Die zu bekommen, war sehr selten, weil die auf sich gestellten Leute verdächtig waren."
Schnell arbeitete sich Agnes hoch bis hin zur Simultandolmetscherin. Die schwerste Disziplin in der Branche. "Ich habe Schauspieler auf Filmfestivals oder Wissenschaftler in Forschungsinstituten übersetzt. Auch Politiker. Einmal war ich in der 'Aktuellen Kamera' zu sehen, der 'Tagesschau' der DDR."
Ausländerfeindlichkeit hat die Ungarin nie erlebt
Agnes mochte ihr Leben in Deutschland, alles war irgendwie neu, aufregend und anders. "Es war das erste Mal, dass ich ein selbstständiges Leben hatte. Ich hatte bis dahin nie ein eigenes Zimmer." Zuvor sei sie nie allein gewesen, immer zu fünft in einer Zwei-Zimmer-Wohnung. "Ein richtiges Erwachsenenleben habe ich erst hier gelebt: dass ich machen konnte, was ich wollte."
Gefehlt hat ihr Ungarn aber trotzdem. "Ich hatte schon Heimweh. Aber ich war ja auch kein Kind mehr, mit 26 Jahren." Ausländerfeindlichkeit habe sie nie erlebt. "Im Gegenteil, alle waren sehr neugierig auf mich. Ich sollte immer von Ungarn erzählen." Ihr habe man allerdings auch nicht angesehen, dass sie Ausländerin war. "Sie merkten es erst, als ich angefangen habe zu sprechen, weil ich ja immer noch einen Akzent habe."
"Die SED und die Stasi schikanierten uns nicht."
Heimat? Sie kann beide Länder nicht mehr unterscheiden
Agnes und Bernd sind in der Gegend wohnen geblieben. Wenn man sie fragt, was denn nun ihre Heimat sei, Ungarn oder Deutschland, sagt sie: "Ich kann beide Länder in dem Gefühl nicht mehr unterscheiden."
Das DDR-System sieht sie differenziert. Sie weiß um das Unrecht, hatte aber das Glück, es selbst nicht erlebt zu haben. "Ich schimpfe nicht auf die DDR. Ich war da glücklich. Natürlich sah ich auch die Probleme, die es gab. Aber ich war jung, ich war frisch verheiratet. Die SED und die Stasi schikanierten uns nicht. Wir waren nicht groß von Belang und lebten einfach unser Leben."
Plötzlich fragte er: "Sind Sie irgendwie fortschrittlich?"
Dadurch, dass Agnes beruflich mit Politikern zu tun hatte, musste sie oft Verschwiegenheitserklärungen unterschreiben. Mit der berüchtigten Staatssicherheit, genannt Stasi, allerdings habe sie nur selten zu tun gehabt. "Nur einmal kam ein Mitarbeiter vom Staat zu uns und fragte mich aus. 'Sind Sie irgendwie fortschrittlich?', fragte er mich und ich musste lachen. 'Irgendwie schon', antwortete ich ihm. Und auch er fing an zu grinsen." Agnes war sich sicher: "Das musste einer von der Stasi sein..."
Angesichts dieser harmlosen Stasi-Erfahrung wundert es nicht, dass Agnes wenig Bedürfnis verspürte, nach Westberlin zu reisen. Nur manchmal, wenn sie ein bisschen Trinkgeld vom Dolmetschen hatte, sei sie rübergefahren. "Dann saß ich auf der Bank am Ku’damm, aß mein Leberwurstbrot und beobachtete die vorbeilaufenden Menschen. Mehr nicht. Aber was sollte ich da auch allein?"