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Sexistische Scheiße

Catcalling ist in Deutschland nicht strafbar – trotzdem ist es das Letzte

Wütend, Frau sexistische Scheiße
Einer Frau hinterherrufen oder ihren Körper kommentieren, ist nicht okay – und das kann einen auch wütend machen.Bild: Shutterstock / studiostoks
Sexistische Scheiße

Catcalling ist das Letzte: Kein Mann der Welt darf öffentlich meinen Hintern kommentieren

19.02.2024, 08:02
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Es war gar nicht lang. Wenige Sekunden hat dieser Moment gedauert. Und dennoch erinnere ich die Szene und vor allem dieses scheiß Gefühl, das ich danach hatte, noch jetzt.

Ich habe länger darüber nachgedacht, ob ich wirklich darüber schreiben soll. Ob es nicht eine andere Situation gibt. Eine, bei der ich vielleicht etwas besser wegkomme und nicht ganz so verunsichert und wehrlos wirke, wegen – ja, wegen was eigentlich? Allerdings ist diese Geschichte genau deshalb so wichtig. Weil sie deutlich macht, dass es eben nicht nur um einen blöden Spruch geht. Und weil es so vielen Menschen, meist Frauen, genauso ergeht wie mir.

Es war ein stressiger Tag. Ich wollte nur noch kurz noch zu dm. Schnell noch ein bisschen Duschgel besorgen, Zahncreme, Taschentücher. War das alles? Ich ärgerte mich, weil ich mir schon wieder keine Liste gemacht hatte. In einer halben Stunde würde der Laden schließen. Hoffentlich hatte ich alles im Kopf.

Über "Sexistische Scheiße"
Ronja Brier schreibt in dieser Kolumne über Alltags-Sexismus, den wir alle kennen, selbst erfahren oder in der Öffentlichkeit wahrnehmen. Der trotzdem oft genug kleingeredet wird oder über den hinweggesehen wird. Unsere stellvertretende Chefredakteurin hat genug davon! In ihren Texten will sie informieren, widersprechen oder sich einfach mal über sexistische Scheiße auslassen.

Als ich aus dem Haus trat, zogen zwei ältere Männer mit Hund an mir vorbei. Da ich für bummelnde Chihuahuas keine Zeit hatte, schlängelte ich mich nach wenigen Metern an ihnen vorbei. Rooibos-Vanille-Tee, fiel mir ein, als ich sie gerade hinter mir gelassen hatte. Den durfte ich nicht vergessen, die Packung war fast leer. Duschgel, Zahncreme, Taschentücher und Tee, versuchte ich mir einzuprägen, als mich völlig unvorbereitet traf, was einer der beiden Männer sagte. "So einen geilen Arsch habe ich ja lange nicht gesehen."

Der andere lachte.

Catcalling Mittelfinger
Gute Reaktion auf einen blöden Spruch.Bild: Pexels / vung nguyen

Ich sagte: nichts. Ich ging weiter. Und tat so, als hätte ich nichts gehört. Als wäre gar nichts passiert.

Ich blickte an mir herunter. Ich trug eine Leggins mit Hoodie. Als ob das irgendwas mit dem zu tun hätte, was gerade geschehen war. Das weiß ich natürlich besser. Die Kleidung kann nie eine Erklärung sein für ein solches Verhalten. Nie. Ob man Leggins, Minirock oder einen Kartoffelsack trägt.

Ich reagierte nicht. Denn ich wusste nicht, wie. Ich wünschte, ich hätte den Kommentar nicht extra überhört, sondern stattdessen etwas gesagt. Etwas Schlagfertiges. Etwas, das alle hörten. Irgendwas – um nicht weiter zu schweigen. Stattdessen schämte ich mich. Für die Situation. Für meine Reaktion. Und ich schämte mich dafür, dass ich mich schämte.

Die beiden Männer schämten sich nicht. Und das ist mit das Beschissenste an Catcalling: Zwei Typen benehmen sich daneben. Aber ich fühle mich schlecht.

Was genau ist Catcalling eigentlich?

Bei Catcalling denken die meisten ja an das klassische Hinterherrufen. Aber Catcalling können auch Pfiffe sein, Gesten oder Kommentare. Auch die beiden Typen haben mir nicht hinterhergerufen. Aber sie haben sich so laut unterhalten über mich, dass ich es hören konnte. Ich sollte es hören.

Catcalling ist sexuelle Belästigung ohne Körperkontakt. Und fast immer löst es großes Unbehagen aus. 44 Prozent der Frauen und 32 Prozent der Männer in Deutschland haben Situationen wie diese schon erlebt. Das besagt eine Studie des Familienministeriums von 2022. Immer wieder wird deshalb diskutiert, ob Catcalling in Deutschland strafbar werden sollte. So wie in Belgien, den Niederlanden, Portugal und Frankreich. Bei uns gibt es zwar Initiativen und Aktionen, die auf Catcalling aufmerksam machen. Allerdings bisher ohne Erfolg.

Catcalling
In dieser Situation wird man eher ungern angesprochen von Fremden. Bild: Pexels / zeeshaan shabbir

Der Knackpunkt ist: Nach der Rechtsprechung ist Catcalling nur dann strafbar, wenn es neben der sexuell motivierten Äußerung auch zu einer vorsätzlichen Ehrverletzung kommt. Das klingt nach vorgestern. Und das ist ein Problem. Denn das heißt, dass sexuelle Belästigung allein nicht schlimm genug ist. Es ist eine Logik, die der von Gangstern entspricht. Die nicht besser ist als die Gesetze der Straße: Erst wenn es um die Ehre geht, die zum Beispiel durch eine Beleidigung verletzt wird, wird es ernst. Erst dann wird die Äußerung auch strafrechtlich relevant.

Ich lief bei dm durch die Regale und versuchte, nicht mehr an den Kommentar über meinen Hintern zu denken. Oder an das, was ich hätte sagen können. Lass gut sein, dachte ich mir. Es ist schließlich keine Geschichte, bei der man sagt: die Arme! Und natürlich ist es nicht die schlimmste Sache, die mir je passiert ist.

Atembeschwerden bis Angstzustände: Betroffene berichten

Manch einer fragt sich vielleicht, was überhaupt passiert ist. Es ist doch niemand zu Schaden gekommen, könnte man denken. Betroffene sehen das anders. Sie berichten unter anderem von Atembeschwerden, Schwindel und Übelkeit, die danach eingetreten sind. Das ergab eine Studie der Texas Tech University. Und natürlich kann derartige Belästigung auch für ein verringertes Gefühl von Sicherheit sorgen. Betroffene haben auch im Nachhinein oft noch Angst – davor, sich nicht schützen zu können und vor Vergewaltigung.

Aber hey, ist doch nichts passiert …

Ein öffentlicher Kommentar über den Hintern einer Frau ist absolut grenzüberschreitend. Es steht niemandem frei, den Hintern oder irgendein anderes Körperteil einer Person zu bewerten wie ein Stück Fleisch. Es ist entwürdigend. Und kein Mann der Welt darf sowas.

Dennoch müssen Frauen und auch manche Männer sich Sprüche wie diesen jeden Tag anhören. Und sagen sie was, weil es nicht okay ist, dann liegt der Fehler angeblich trotzdem oft bei ihnen: Das hast du falsch verstanden, heißt es dann. Das war doch nur ein Scherz. Oder der Klassiker: Stell dich nicht so an. Immer wieder gibt es sogar Menschen, die glauben, man müsse sich über diese Art von Sprüchen freuen: Ist es nicht irgendwie auch ein Kompliment?

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Tatsächlich empfand es eine Freundin als schmeichelhaft, als uns einmal zwei Jungs aus einem Auto hinterhergepfiffen haben. Auf mich wirkte es nicht nur geschmacklos, sondern auch bedrohlich, als das Fahrzeug neben uns mitten in der Nacht immer langsamer fuhr und schließlich die Scheibe heruntergelassen wurde.

Was man heute noch sagen darf: Dafür gibt es eine einfache Regel

Und Komplimente sollten sich doch eigentlich gut anfühlen, oder? Eine ungefragte Bewertung meines Körpers, oft auch sexualisiert, ist übergriffig und herablassend. Aber nicht nett. Ich bin kein Objekt und ich möchte auch nicht wie eines behandelt werden.

Und um allen zuvorzukommen, die jetzt gar nicht mehr wissen, was man heute eigentlich noch sagen darf: Es gibt da eine ganz einfache Regel, die sich jede:r merken kann. Würde man sich gegenüber der eigenen Mutter schämen wegen einer Bemerkung, die man über eine fremde Frau und ihren Körper gemacht hat, dann kann das kein Kompliment sein. Sondern in vielen Fällen ist das eine Machtdemonstration.

Also spart euch dieses Das-ist-ein-Missverständnis-und-nur-nett-gemeint-Gerede. Bitte. Denn genau das, dass am Ende so getan wird, als hätten wir irgendetwas falsch verstanden, das ist das Einzige, was noch sexistischer ist als der Kommentar über meinen Hintern selbst. Weil man nicht mal als Betroffene:r ernst genommen wird.

Weil man am Ende bei dm an der Kasse steht. Mit Duschgel, Zahncreme, Taschentüchern. Und zu spät fällt auf: Es fehlt der Tee.

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Es gehört zu den lästigen Pflichten des Erwachsenseins, die Mahlzeiten der Woche im Voraus zu planen und im besten Fall schon am Wochenende für alle Tage einkaufen zu gehen. Viel zu oft vergisst man dabei, dass Supermärkte in aller Regel sonntags geschlossen haben.

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