Alles, nur kein Hartz IV: Was manche Familien auf sich nehmen, nur, um nicht vom Staat abhängig zu werden, ist eigentlich kaum fassbar. Da werden Arbeitsbedingungen akzeptiert, die gegen sämtliche Regelungen verstoßen oder Schuldenberge aufgetürmt, um bloß nicht arbeitslos zu werden.
So ist es auch bei Reinhold und Maria. Die beiden Selbstständigen und deren zwei Kinder sind Protagonisten der RTL-2-Armutsshow "Armes Deutschland" – und erfüllen quasi die Rolle der armen, aber ehrwürdigen Arbeiter. Damit bilden sie das Gegengewicht zu den in der Sendung üblicherweise präsentierten Fällen:
Meist sind das junge Paare, die sich angeblich weigern, arbeiten zu gehen, sich dafür in der sozialen Hängematte ausruhen, wie die Stimme aus dem Off nicht müde wird, zu betonen, und so beim Zuschauer Ressentiments gegen Langzeitarbeitslose erzeugen. Zum Glück gibt es dann ja noch Fälle wie die von Reinhold und Maria: Menschen, die alles tun, um eben nicht in Hartz IV zu rutschen.
Die Probleme bei dieser Erzählweise in Sendungen wie "Armes Deutschland" sind allerdings folgende:
RTL 2 zeigt bei der letzten Folge "Armes Deutschland" somit ein Problem, dass sie selbst mit befeuern – die Angst vor Hartz IV. Folglich wirkt es in der Sendung so: Wer die staatliche Hilfe annimmt, macht es sich bequem in seiner finanziellen und beruflichen Misere. Wohlwollend wird allerdings berichtet über diejenigen, die sich der Unterstützung des Sozialstaates verweigern und sich stattdessen aufreiben, das eigene Wohlbefinden und die Zukunft der Kinder aufs Spiel setzen.
So sind Reinholds und Marias Entscheidungen nicht allesamt nachvollziehbar und könnten teils sogar schädlich für ihre Familie sein. In der Sendung thematisiert wird das allerdings nicht.
Seit Jahren betreiben Reinhold und Maria gemeinsam ein Gartenbauunternehmen. Lange Zeit ging es ihnen und den beiden Kindern sehr gut, bis Reinalds Gesundheitszustand sich allerdings drastisch verschlechterte und das Unternehmerpaar größere Aufträge absagen musste.
Seitdem bleiben der vierköpfigen Familie nur 450 Euro zum Leben im Monat übrig. Die Miete für ihr Haus hat sie seit drei Monaten nicht gezahlt.
Um ihrer Familie zu helfen, hat Tochter Francis die Schule abgebrochen und soll nun als Geschäftsführerin für einen neuen Unternehmensplan hinhalten: einen Imbiss – die scheinbar letzte Chance für die Familie, aus dem finanziellen Tief zu kommen. Gerade volljährig weist Francis eine positive Schufa-Auskunft auf und kommt so als einziges Familienmitglied infrage, um die neue Geschäftsidee zu tragen.
Dass die 18-Jährige somit keine Ausbildung machen kann und ein großes finanzielles Risiko eingeht, geht vor dem Hintergrund ihrer ehrwürdigen Beweggründe, den Eltern zu helfen, ein wenig unter.
Ist es wirklich so sinnvoll, staatliche Unterstützung unter allen Umständen zu verweigern und stattdessen nicht nur das eigene Wohlbefinden, sondern auch die Zukunft der Kinder zu gefährden? Funktionieren Reinhold und Maria als Positivbeispiele von Menschen, die alles tun, um der Armut zu entfliehen – indem sie ihre eigene Tochter in die finanzielle Misere schicken, wenn alles schief geht?
Und schief gehen könnte hier schließlich so einiges, denkt man an die nicht existenten Rücklagen der Familie und die mangelnde Berufserfahrung der jungen Geschäftsführerin.
In diesem Zusammenhang erinnere ich mich an meine eigene Jugend zurück: Meine Eltern haben damals, ähnlich wie Reinhold und Maria, versucht, sich mithilfe der Selbstständigkeit vor der drohenden Armut zu retten.
Vor etwa 15 Jahren noch haben sie mit einer eigenen kleinen Firma Zeitungen ausgetragen – und hatten schließlich Pech mit ihrem Auftraggeber. Die Zusammenarbeit kollabierte von einem Tag auf den anderen, meine Mutter, auf die das Unternehmen lief, meldete Privatinsolvenz an.
Als ich mit ihr über Reinholds und Marias Situation spreche, sagt sie: "Es ist extrem und eigentlich kaum zu glauben, wie sich diese Familie aufopfert." Laut ihrer Einschätzung ist die Familie sich allerdings nicht dessen bewusst, welches finanzielle Risiko sie mit ihrem Handeln eingehen und wie stark sich ihre Situation dadurch verschlechtern könnte.
Schließlich besteht die Möglichkeit, dass das neue Unternehmenskonzept nicht aufgeht und die Familie so in eine Schuldenfalle tappt, aus der es kein schnelles Entrinnen gibt:
Meine Mutter weiß, wovon sie spricht. Von der Privatinsolvenz und der darauffolgenden Arbeitslosigkeit hat sie sich bis heute nicht erholt. Zwar hatte sie zwischenzeitlich wieder eine Vollzeitstelle in Festanstellung – allerdings hat sie auch diese wieder verloren, als ihr Arbeitgeber pleite ging. Und das nur kurz nachdem ihre Schulden vom Staat getilgt worden waren und sie wieder mehr als 900 Euro pro Monat verdienen durfte.
"Was diese Familie macht, ist: Sie versuchen, zu retten, was nicht rettbar ist", sagt meine Mutter. Weiterhin meint sie:
Schade ist, dass die Sendung nicht die Gelegenheit aufgreift, tiefer in das Thema einzusteigen und das Problem, die Panik vor Hartz IV, offen als solches zu verhandeln.
Es zeigt sich wieder einmal, wenn auch nur angedeutet, was für ein großes Problem Arbeitslosigkeit in unserem Land darstellt: Einerseits das System Hartz IV und die damit oftmals einhergehende Stigmatisierung. Andererseits auch die Angst vor der Arbeitslosigkeit, die durch die Stigmatisierung noch zusätzlich geschürt wird.