Es ist Mitternacht, als ich mein Hotelzimmer betrete, und die Sonne brennt in meinen Augen. Schnell ziehe ich die dicken Vorhänge zu.
Ich bin im norwegischen Alta – an einem Ort, wo die Nacht keine richtige ist. Zwischen Ende Mai und Ende Juli geht die Sonne im hohen Norden Skandinaviens nicht unter. Als ich ankomme, steht die sogenannte Mitternachtssonne schon seit Wochen am Himmel. Ich bin hier, um zwei nachtlose Nächte zu erleben, in denen ich mir selbst einen Eindruck davon verschaffen möchte, wie sich das ständige Sonnenlicht auf Kopf und Körper auswirkt.
Die Arktische Universität Tromsö hat in Alta einen großen Campus. Eine Stadt, in der die Sonne im Sommer nicht untergeht, klingt nach dem Traum vieler Studenten. Endlos lernen, endlos feiern – doch wie feiert es sich im nächtlichen Sonnenschein, wenn keine Dunkelheit die gelegentliche Eskalation verbergen kann, die ebenso zum Studium gehört wie die Panik vor Abgabefristen? Kann man hier so tun, als gäbe es gar keine Nacht?
Schnell stelle ich fest: Weder ist die sonnige Party-Nacht so unkompliziert, wie sie klingt, noch eine taghelle Nachtwanderung so entspannt, wie ich vorher vermute.
Via Facebook versuche ich, partywillige Altaner zu finden, bleibe jedoch mit Ausnahme einiger gruseliger Antworten, die mich zu lauschigen Nachtwanderungen zu zweit (bitte nicht) einladen, erfolglos. Der Abend ist allerdings noch einige Stunden entfernt, also beschließe ich, Alta zu erkunden.
Das Berliner Berghain hatte ich zwar nicht erwartet, doch zumindest mehr als eine kleine Hütte, die als Bar durchgehen will. Das "Catch 22", ebenjene Bar, soll sich in der bevorstehenden Nacht jedoch zum Bersten füllen, werde ich später noch feststellen.
Was Alta aber wohl zu bieten hat, sind Aussichten. Direkt am Altafjord weht eine steife Brise durch die weitestgehend leeren Straßen der Stadt, während ich hindurchspaziere, das Handy immer in der Hand, verzweifelt auf ungruselige Nachrichten freundlicher Studenten hoffend. Sie bleiben aus – und mir nichts weiter übrig, als mich allein ins hoffentlich aufregende Nachtleben Altas zu stürzen.
21 Uhr... 22 Uhr... 23 Uhr... Ich habe kein Zeitgefühl mehr. Während ich darauf warte, dass die Nacht offiziell beginnt, vergehen ganze Stunden, in denen die Helligkeit draußen nicht schwindet.
Dann ist es plötzlich halb 12. Da hier alles um spätestens 3 Uhr schließt, vermute ich, die Alta’sche Jugend müsse ihre Nacht früher beginnen, als ich es aus Berlin gewöhnt bin.
Als ich jedoch so durch die Straße (Singular) der Innenstadt streife, fühle ich mich einsam. In beiden Locations, in denen laut Facebook heute was los sein soll, herrscht tote Hose. Wo sind die Menschen? War’s das jetzt schon mit dem Nachtleben? Ist diese Geisterstadt, die sich mir hier an einem Samstagabend bietet, schon das Maximum der Party-Eskalation im Licht der Mitternachtssonne?
Es ist das "Catch 22", das ich schon am Vormittag beäugt habe. Als ich zur Tür reinkomme, mustert mich der Barkeeper direkt skeptisch. Ich stürze mich auf ihn. Er heißt Simon, ist 22 Jahre alt und kommt aus Russland.
"Hier ist ja nicht viel los", bemerke ich und schwenke meinen Arm durch den menschenleeren Raum. "Bin ich zu früh dran?"
“Ja, die Leute kommen erst so gegen 1", erklärt mir Simon hilfsbereit und hält mich vermutlich für sehr einsam. Ich eröffne ihm, dass ich einen Artikel schreibe, und schon sieht er mich etwas weniger mitleidig an. Worüber ich denn schreibe, will er wissen. Ich spreche die Mitternachtssonne an.
"Jetzt, wo du's sagst – im Winter hatten wir hier schon ein paar schwierige Situationen, im Sommer bisher nicht", verrät mir Simon und ich klopfe mir im Geiste auf die Schulter, habe ich schließlich geahnt, dass sich die Party-People bei peinlichem Tageslicht vielleicht mehr zusammenreißen.
Ein Bierchen in der Bar ist durch die hohe norwegische Alkoholsteuer schon ein teures Vergnügen. Die einzige Lösung: Vorglühen! Dafür haben die Norweger sogar einen deutschen Begriff: Das "Vorspiel". Simon erklärt das so: "Man kauft sich 'billigeren' Alkohol im Laden, trinkt den zu Hause, kommt dann gegen 1 Uhr hierher, kauft sich ein Bier oder einen Cocktail, und das war’s. Daher haben wir hier oft Nächte, in denen zwar viele Leute kommen, wir aber nicht viel verkaufen."
Was Simon nicht ahnt: Einer dieser Leute werde ich auch sein, denn ich komme am selben Abend noch wieder. Diesmal jedoch nicht allein...
Ich verabschiede mich von Simon und ziehe weiter. Und dann entdecke ich sie: Ein paar junge Männer chillen auf dem Parkplatz eines Einkaufscenters. Als ich auf sie zugehe, brüllt mir einer von ihnen direkt höflich entgegen:
Ich lasse mich nicht abschrecken. Sie sind zu dritt, alle schick gekleidet. Wegen ihrer Klamotten gehe ich davon aus, ich sei über Hochzeitsgäste gestolpert, aber es stellt sich heraus: Es ist eine Firmenparty, und sie trinken feiern bereits seit 18 Uhr.
Sie jobben in einem Klamottenladen im örtlichen Shoppingcenter und dürfen dort bis halb 1 Party machen, bevor die Alarmanlage angeht. Ja, im Laden, und ja, der Chef weiß Bescheid. Tatsächlich ist er mit dabei. Er heißt Oliver und ist laut Eilert, äh, "drunk as fuck". Okay, coole Firmenparty.
Eilert ist 23, ein waschechter Altaner und studiert derzeit in Oslo Jura. "Nebenberuflich" ist er in seiner Heimat Lokalpolitiker. Jacob, 22, kommt aus Bergen und studiert in Alta Sozialpädagogik. Und Emil, frischgebackener Abiturient und ebenfalls Altaner, ist 19.
Im Laden treffe ich ihre Kollegin Solveig und Oliver, den Chef der Jungs. Er ist 26 Jahre alt, Deutscher und wirkt auf mich keineswegs "drunk as fuck". Während sich seine Mitarbeiter grölend darüber lustig machen, dass wir uns auf Deutsch unterhalten, verrät er mir: "Wenn Norweger ein, zwei Drinks intus haben, erzählen sie dir alles. Wenn sie nüchtern sind, sind das die schüchternsten Menschen überhaupt."
Und dann kommen wir endlich auf das Thema zu sprechen, das mich nach Alta führt: Die Mitternachtssonne. Jacob meint, die Helligkeit wirke sich nicht so sehr auf das Leben an sich aus, denn mit guten Vorhängen könne man gut schlafen, aber man fühle sich generell lebendiger. Ich nicht, aber das liegt vielleicht an meinem fortgeschrittenen Alter – 26. "Wow, das ist alt!", johlt Eilert, der 23-Jährige.
Besonders wichtig sei das Nachtleben aber nicht während der Mitternachtssonne, sagt Jacob – sondern während der monatelangen Polarnacht, in der die Sonne nicht aufgeht. "Da muss man Spaß haben, ansonsten wird man depressiv. Also feiern wir umso härter, um die Traurigkeit auszugleichen."
Kaum habe ich mich an den improvisierten Partytisch inmitten des Klamottenladens gesetzt, wird mir Sangria eingeschenkt – eine ganz besondere Rezeptur: Wodka, Rotwein und Ginger Ale (nicht zu empfehlen). Beim ersten Schluck verziehe ich das Gesicht. "Ja, schmeckt wie Scheiße, aber es ist gratis!", lacht Solveig, die Kollegin der Jungs.
Ich bin mitten im norwegischen "Vorspiel" gelandet, von dem mir Simon im "Catch 22" schon erzählte: Hier wird schnell getrunken, was geht, denn im Club nachher – beim sogenannten "Nachspiel" – kann und will sich niemand mehr als einen Drink an der Bar leisten. Also investiert man in "billigen" Wodka – umgerechnet rund 25 Euro, sagt Emil –, oder stellt eben selbst Alkohol her. So wie Eilert, der seinen eigenen Wein produziert.
Teils angetrunken, teils sturzbetrunken machen wir uns um halb 1 auf den Weg zum Club. Auftritt: "Catch 22".
Es dauert nur wenige Sekunden: Jacob lässt seinen Charme beim Türsteher spielen, und schon sind wir drinnen. Aus unerklärlichen Gründen läuft hinter der Bar auf einem Fernseher "Tote Mädchen lügen nicht". Hier wird einem richtig was geboten! Und das auf knapp 40 m².
Das "Catch 22" ist brechend voll. So voll, dass ich meine Leute im Getümmel verliere – und langsam sitzt mir die Sonne in den Knochen. Ich bin müde und sehne mich nach dem Hotelbett. Und gehe.
Ich bin unendlich müde und merke, dass die Sonne das Problem ist. Als ich um halb drei ins Bett gehe, sieht es draußen noch immer aus wie kurz nach Feierabend. Mein Geist schreit nach dem Bett, aber mein Körper bekommt davon offenbar nichts mit. Schlafen? Fehlanzeige.
Der Sonntag bricht an – und für ihn habe ich einen Plan im Gepäck, der nicht von anderen Menschen abhängt. Ich werde bergsteigen. Nachts. Allein. Eine Entscheidung, auf die ich erst noch stolz bin.
Schon beim Aufstieg bemerke ich: Wow, liege ich mit meinem Outfit daneben. Während mich zahlreiche Trainingsanzüge und Turnschuhe überholen, komme ich in Wollmantel und Glitzer-Boots schnell ins Schwitzen, vom fehlenden Halt auf dem unebenen Boden mal ganz abgesehen. Stein um Stein quäle ich mich zum Gipfel des Komsa und beschließe, einen vermeintlich läppischen 200-Meter-"Berg" nie wieder zu unterschätzen – denn auch 200 Meter können eine echte Qual sein, wenn die Steigung steil genug ist.
Doch es lohnt sich. Nach einer gefühlten Ewigkeit schaffe ich es, die unerwarteten nächtlichen Menschenmassen auf dem Gipfel hinter mir zu lassen und eine abgelegene Ecke mit toller Sicht zu finden.
Für die nächsten vier Stunden habe ich meine Ruhe. Kein Mensch verirrt sich mehr in meine Ecke, in der Ferne beobachte ich bloß zwischendurch ein paar mitternächtliche Gipfelstürmer. Und im Gegensatz zu meiner verfügen ihre Kameras sicher über einen Intervall-Selbstauslöser.
Nein, aber ehrlich: Während die Temperatur auf knackige 5 Grad sinkt und ich mich mit zahlreichen Pullis immer mehr in eine Zwiebel verwandle, entschädigt mich die Aussicht für meine gefrorenen Extremitäten.
Um 2 Uhr morgens, vier Stunden und ungefähr drei Fantastilliarden Fotos später habe ich sie im Kasten: Alle Aufnahmen für ein Zeitraffer-Video der am Horizont entlangwandernden Mitternachtssonne. Kurz droht sie hinter den gegenüberliegenden Bergen zu verschwinden – doch bleibt sie ihrem Namen treu und erhellt selbst noch nach Mitternacht den Altafjord zu meinen Füßen.
Völlig durchgefroren und todmüde packe ich meine Sachen – und traue meinen Augen kaum, als mir selbst beim Abstieg vom Komsa noch Jogger und Hobby-Bergsteiger entgegenkommen. Es scheint, als habe nicht nur mich die Mitternachtssonne zu nächtlichen Ausflügen motiviert.
In der Innenstadt hingegen ist alles ruhig. Es ist inzwischen 3 Uhr und die Stadt gehört den Tieren. Ein Hase flitzt über die Straße und verschwindet auf dem Uniparkplatz; Möwen ziehen kreischend ihre Bahnen und versuchen mich zu vertreiben. Erfolgreich. Ich verziehe mich ins Hotel – ins Bett – ins Dunkel. Endlich.