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Tafeln in Deutschland: Wie das Ehrenamt die Fehler des Staats ausbügelt

DEU, Deutschland, Berlin-Schoeneberg, 05.09.2009: Lebensmittelspenden fuer Beduerftige (Hartz 4, Sozialhilfe-, Arbeitslosen- oder Rentenempfaenger) - eine Aktion von "Laib und Seele" in Verb ...
Jesus schaut hier zu, bei sozialpolitischen Fehlern aber nicht. Typisch.Bild: Dietmar Gust
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Deutschlands Tafeln: Wenn Staatsversagen Hunger schafft

17.03.2025, 07:2117.03.2025, 07:21
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"Lieferung!", schmettert Stefanie Gumz durch den Bauch einer Kirche irgendwo in Berlin-Charlottenburg. Wo eben noch launige Gespräche übers Wetter, die klirrende Kälte und Glatteis stattfanden, wird’s emsig. Eine Kolonne in roten Helfer-Shirts zieht los und holt Kisten aus einem Sprinter. Schwere Kisten, gefüllt mit Obst, Gemüse, Gebäck.

Durch die Räume, die sonst der Andacht dienen, reihen sich keine Bänke mit Gebetsbüchern, sondern Tischreihen, auf denen sich Lebensmittel stapeln. Erdbeeren, Kartoffeln, Zwiebeln, Sellerie, Bananen, vor allem Bananen. So viele, dass kaum Platz ist. "Ist immer eine Glückssache, was wir bekommen. Vergangene Woche türmten sich Zitronen in der Auslage", sagt Gumz.

Sie ist für die Ausgabestelle verantwortlich, kümmert sich für die Berliner Tafel darum, dass Armutsbetroffene nicht hungern müssen. Alles auf Spendenbasis, von Supermärkten, Bäckereien, sogar Drogerien. Ohne die Unterstützung von Menschen wie Gumz wären bundesweit Hunderttausende aufgeschmissen. Eine bittere Realität.

Wenn der Staat seine Aufgaben vergisst

Eigentlich ist es die Aufgabe des Staats, eine ausgewogene und gesunde Ernährung für alle zu ermöglichen, so fordert es das Völkerrecht. Sozialpolitische Versäumnisse sorgen in Deutschland allerdings dafür, dass gerade Armutsbetroffene keine wirkliche Ernährungssicherheit haben. Und in den vergangenen drei Jahren ist ihre Zahl nochmal gewachsen.

"Seit Beginn des russischen Angriffskriegs kommen im Schnitt 50 Prozent mehr Menschen zu uns", sagt ein Tafel-Sprecher auf watson-Anfrage. "Wir befinden uns in herausfordernden Zeiten." Mittlerweile sind deutschlandweit 1,6 Millionen Menschen auf Unterstützung angewiesen. Die Schlangen vor den Essensausgaben wachsen stetig.

Auch in Charlottenburg.

Vor den großen, stählernen Kirchentoren warten die Menschen bereits, schwere Winterjacken am Leib, die Trollis im Anschlag. Zu sehen sind müde Gesichter, zerfurchte Gesichter, jugendliche Gesichter, neugierige Gesichter, verhärtete Gesichter; Gesichter mit Zornesfalten, Gesichter mit Lachfalten; Gesichter, die zum Plauschen laden, Gesichter, die auf Distanz pochen. Gespräche sind nicht möglich. Gumz schirmt sie ab. "Lieber keine Presse."

In einer Halle des Berliner Großmarkts packen ehrenamtliche Helfer der Berliner Tafel mit Atemschutzmasken Lebensmittel in Tüten. Wegen der COVID-19-Pandemie mussten die 42 LAIB und SEELE -Ausgabestel ...
In Charlottenburg werden noch ordentlich Lebensmittel geliefert.Bild: imago / snapshot-photography/F.Boillot

Wer kommt zur Tafel – und warum?

Die vielen Gesichter stehen dicht zusammengedrängt, bilden eine wuchtige Traube. "2017 war es überschaubarer. Wir betreuten 46 Haushalte, mittlerweile sind es 178, also um die 300 Personen", sagt Helferin Susanne (Nachname der Redaktion bekannt), die vorm Eingangsbereich ihre Strichlisten ordnet. Sie hakt die Namen bei Einlass ab. "Soll ja fair bleiben."

Die meisten Tafel-Kund:innen sind Bürgergeld-Empfänger:innen oder Rentner:innen. Viele ukrainische Flüchtlinge sind dabei. "Mit dem Krieg kamen natürlich auch viele zu uns. Es ist bitter, dass sie nicht die Unterstützung kriegen, die sie eigentlich brauchen. Hier müssen wir eben einspringen."

Mittlerweile liegen alle Lebensmittel griffbereit in der Auslage, hinter den Tischen warten Pack-Helfer:innen. Freundliches Lächeln, aufmerksame Blicke. Punkt 13:30 Uhr geht es los, die Türen öffnen sich und die Menschen fließen zäh durch das Nadelöhr Richtung Check-in-Tresen. Kein Gedrängel, kein Geschubse, kein Gefluche. "Es gab hier schon einigen Ärger, auch Prügeleien. Mittlerweile entwirren wir das Ganze, in dem wir Bezirken festen Zeiten zuweisen. Die Lage ist entschärft und wir behalten den Überblick", sagt Susanne.

Voll ist es trotzdem.

So voll, dass hier erstmal keine neuen Kund:innen mehr aufgenommen werden. "War nötig, aber es gibt noch eine Ausgabestelle, ein paar Minuten entfernt. Es schmerzt immer ein wenig, eine Person wegzuschicken, aber dafür haben wir immerhin Wartelisten", sagt Susanne. Das höhere Aufkommen sorgte für Überfüllung. Bundesweit ist die Lage kritisch.

Wenn Helfen an Grenzen stößt

Ein Drittel aller Tafeln haben temporäre Aufnahmestopps verhangen. Erst Dezember vergangenen Jahres meldete die Tagesschau, dass rund 60 Prozent von ihnen die Ausgabe von Lebensmitteln reduzieren müssen. Das hängt nicht nur mit der hohen Nachfrage zusammen, sondern auch mit dem Spendenaufkommen.

Es wird schwieriger, Lebensmittel zu organisieren. Supermärkte kalkulieren ihre Güter mittlerweile genauer, haben am Ende des Tages nicht mehr viel übrig, betont der Tafel-Sprecher. Längst gibt es präzise digitale Tools, um den Bedarf an das Kaufverhalten der Kund:innen anzupassen. Weniger Produktion ins Blaue, weniger Überschuss.

Es gibt noch ein weiteres Problem. Während die Supermarkt-Spenden abnehmen, hat sich die Lebensmittelrettung zum Geschäftsmodell entwickelt. Organisationen wie Too Good To Go verkaufen Überschüssiges kostengünstig weiter. Damit treten Tafeln und Unternehmen in Konkurrenz.

"Hier ist noch alles gut"

In Charlottenburg ist der Mangel noch nicht spürbar. Allerdings hat Leiterin Stefanie Gumz hier ein Netzwerk geschaffen. Ein Fahrer holt Spenden von großen und kleinen Geschäften, aber auch einer größeren Discounter-Backmanufaktur, die namentlich nicht genannt werden soll.

"Hier ist noch alles gut, wobei es hier in der Umgebung auch viele spendenfreudige Unternehmen gibt, die uns zum Glück wohlgesonnen sind. Dass es anders laufen kann, ist klar", sagt sie. Hinter ihr füllen sich währenddessen Taschen mit Lebensmitteln. Mit frischem Brot, mit Bananen, Äpfeln, Tomaten, Sellerie, Zwiebeln, mit allem, was es für eine ausgewogene Ernährung braucht.

Die Kund:innen sind zufrieden, laufen ihre Runden um die Tische, witzeln mitunter mit den Helfer:innen. Frust wegen des Mangels ist nicht spürbar, zumindest heute nicht. "Klar, manchmal gibt es Beschwerden, wenn was fehlt. Einen Tag hatten wir nur sieben Zehen Knoblauch. Und die Leute lieben Knoblauch."

"Ernährungssicherheit darf nicht vom Ehrenamt abhängen"

Auch wenn es vielleicht aktuell gut läuft, ist Wut über Fehlendes nachvollziehbar. Letztlich sind Menschen gezwungen, von dem zum Leben, was abfällt. Ihre Welt wird vom Mangel bestimmt, obwohl die meisten ihrer Wunschgüter in allerlei Supermarktregalen griffbereit sind. Nur fehlt eben das Geld, um bedenkenlos zuzuschlagen.

Armutsfeste Löhne, stabile Renten und eine Grundsicherung, die wirklich sichert, wären notwendig. "Wenn Menschen hungern, ist das weder Zufall noch Schicksal, sondern direkte Folge unsozialer Politik", sagt Linken-Politiker Lars Peters auf watson-Anfrage. "Es gibt keinen unabänderlichen Grund für Armut und Hunger, weil mehr als genug für alle da ist. Es ist nur ungerecht verteilt."

Stefanie Gumz sieht das ähnlich. "Ernährungssicherheit sollte nicht vom ehrenamtlichen Engagement abhängen", sagte sie. Und hier hofft sie ebenfalls auf einen Wandel. Ob es diesen gibt, bleibt fraglich.

Die wahrscheinlich künftige Schwarz-Rot-Koalition einigte sich in ihrer ersten Sondierungsrunde zum Beispiel auf einen höheren Mindestlohn, allerdings soll die zuständige Kommission diesen festlegen – und bisher setzte diese keine großen Sprünge durch. Beim Bürgergeld sind hingegen nur Strafen, keine Erhöhungen angedacht.

Um die Versorgung müssen sich also weiterhin die Tafeln kümmern. Gumz hofft, dass es irgendwann keine Freiwilligenarbeit mehr braucht, dass bundesweit nicht mehr 75.000 Menschen einspringen müssen, um gesundes Essen halbwegs gerecht zu verteilen.

"Bis dahin müssen wir aber anpacken."

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