Nachhaltigkeit
Analyse

Veganismus aus dem Ozean: Wie die UN mit "Blue Food" Welthunger bekämpfen möchte

Indian workers segregate and dry fish at the Fishing Harbour in Visakhapatnam, India on June 16, 2022. The fishing fleet in Visakhapatnam handles an average of 1,000 tonnes of fish every day, providin ...
Die Fischereiflotte in Visakhapatnam, Indien, verarbeitet im Schnitt täglich 1000 Tonnen Fisch und ernährt damit bis zu 15.000 Menschen.null / Pankaj Nangia
Analyse

Gegen Überfischung und Welthunger: Wie der Essenstrend "Blue Food" unsere Meere retten soll

22.02.2023, 12:39
Mehr «Nachhaltigkeit»

Bis 2050 wird mehr Plastik als Fisch in den Ozeanen schwimmen: So lautete die erschreckende Prognose, die auf der UN-Ozeankonferenz in Lissabon gestellt wurde. Denn täglich werden den Ozeanen mehr Lebewesen entnommen, als sich natürlich vermehren können. Über ein Drittel aller essbaren Fischarten sei laut WWF bereits von Überfischung betroffen, 60 Prozent aller Bestände gelten als "maximal befischt".

Besonders schlimm betroffen seien sogenannte "Doughnut Löcher" – Bereiche auf hoher See, die außerhalb nationaler Gerichtsbarkeit liegen, wie Chief Gary Harrison watson auf der Konferenz erzählt. Er vertrat auf der Ozeankonferenz ungebundene indigene Stämme des Chickaloon Native Village in Alaska, deren Ernährung seit tausenden von Jahren vom regionalen Lachs abhängig ist. "Die Lachse, die sonst jedes Jahr aus dem Meer die Flüsse hochgeschwommen sind, fehlen nun schon seit fünf Jahren. Sie wurden so stark abgefangen, dass nun keine neuen mehr nachkommen, um sich fortzupflanzen", sagte er. "Das zerstört die Nahrungskette in unserem ganzen Gebiet."

Chief Gary Harrison, Häuptling und Vorsitzender des Chickaloon Native Village, Alaska.
Chief Gary Harrison, Häuptling und Vorsitzender des Chickaloon Native Village, Alaska.Bild: miriam meyer

Neben dem Klimawandel und der Vermüllung der Meere ist Überfischung eines der schwerwiegendsten globalen Probleme, wie die UN nun betonten, denn: Erzeugnisse aus der Fischerei stellen für mehr als drei Milliarden Menschen eine der wichtigsten Nahrungsquellen dar. Um die Ernährung der wachsenden Weltbevölkerung zu sichern, sei Fischerei also auch zukünftig unerlässlich. Doch mit jeder Fangfahrt würden die Fischbestände schrumpfen.

UN setzen Hoffnung auf "Blue Foods"

Um gegen die extreme Verknappung von Fisch und damit auch gegen weitere Hungerkrisen vorzugehen, haben die Vereinten Nationen ihren Fokus auf der Ozeankonferenz deshalb gezielt auf die Förderung von Kleinfischerei und Aquakulturen gesetzt – sogenannte "Blue Foods".

"Man kann nicht sagen, dass die Klein-Fischerei zu 100 Prozent gut und nachhaltig ist und die großindustrielle Fischerei die Böse", sagte Nicole Franz, Referentin für Fischerei der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) gegenüber watson. "Aber die Techniken, die von der Klein-Fischerei benutzt werden, sind in der Regel nachhaltiger als in der industriellen Fischerei. Allein wenn man an die Masse, Größe und fehlende Kontrolle denkt, die diese großen Fang-Netze haben, die in der industriellen Fischerei benutzt werden – da kommt viel mehr Beifang mit rein", sagte Franz.

Nicole Franz, Referentin für Fischerei der FAO
Nicole Franz, Referentin für Fischerei der FAO.Bild: miriam meyer

Klein-Fischereien dagegen hätten Fang-Techniken, die viel mehr auf ihr natürliches Gebiet angepasst seien. Auch würde hier jeder Fisch verwertet, der gefangen wird: "Da ist es dann egal, wenn im Netz sieben verschiedene Sorten Fisch sind, die kommen alle auf den Markt. Wenn in einem Netz der industriellen Fischerei Fische sind, die nicht zur hochpreisigen Kategorie gehören, werden sie dann wieder ins Meer geschmissen. In Europa ist das zwar jetzt verboten, aber es kommt trotzdem vor", erklärte sie.

Aquakulturen sollen gefördert werden

Als zweite Säule zur (nachhaltigen) Nahrungssicherung definierte die UN eine klare Förderung von Aquakulturen. Ihre Hoffnung – "Blue Foods for Future": "Aquatische Lebensmittel aus Süß- und Salzwassergebieten. Algen, Muscheln, Krustentiere, Weichtiere und Flossenfische – sind der Schlüssel für die Ernährungssicherheit der Menschheit in der Zukunft", betonte auch Norwegens Ministerpräsidentin Erna Solberg auf der Konferenz.

"Die Fangfischerei ist inzwischen auf einem Plateau angekommen, gleichzeitig haben wir aber eine stark wachsende Bevölkerung", so Fischerei-Expertin Franz gegenüber watson. "Das heißt, wenn wir mehr Fisch haben wollen, dann ist Aquakultur sozusagen die anscheinend einfache Lösung."

"Das Problem daran wäre aber, wenn wir Aquakulturen betreiben, die als Fischfutter Fisch verwenden, der von der Fangfischerei kommt. Das wäre dann wieder ein negativer Kreislauf", stellte sie klar. Ökologisch sinnvoller wäre es daher, nur auf Aquakulturen zu setzen, die Fische wie Karpfen, Tilapia oder Pangasius züchten, die vornehmlich Pflanzen und Kleinstlebewesen wie Insektenlarven fressen.

Aquakulturen (auch Fischfarming)
Eine Aquakultur ist die kontrollierte Aufzucht von aquatischen, also im Wasser lebenden Organismen, insbesondere Fischen, Muscheln, Krebsen und Algen. Das Problem bei Aquakulturen: Immer häufiger werden fleischfressende Fische gehalten, die mit Fischpulver gefüttert werden.
Quelle: BUND e.V.
Drohnenfoto einer Fischfarm im Mittelmeer bei Izmir, Türkei, wo Thunfische gezüchtet werden, um nach Japan und Südkorea verkauft zu werden.
Drohnenfoto einer Thunfisch-Farm im Mittelmeer bei Izmir, die nach Japan und Südkorea verkauft werden.Bild: picture alliance / AA / Mahmut Serdar Alakus

Weniger tierisches, mehr pflanzliches Protein

Auch Francisco Mari, Referent für Welternährung, Agrarhandel und Meerespolitik bei "Brot für die Welt" sieht die verstärkte Ausrichtung auf Fischfarming kritisch.

"Wir sind nicht in der Steinzeit, wo wir so viel tierisches Protein bräuchten", sagte Mari gegenüber watson. "Wenn wir uns pflanzlich ernähren, brauchen wir letztendlich auch nicht so viel Fisch, wir in Europa schon mal gar nicht. Aber es gibt Menschen, die Fisch weiterhin brauchen, weil sie sonst keinen Zugang zu Eiweiß haben. Ihnen sollten wir den Fisch lassen", betonte er.

Dabei würden 50 Prozent der Welt-Fischfangmengen auf nur zehn bis 15 Prozent der Weltbevölkerung verteilt und von industriellen Booten gefangen werden. Nur die Hälfte des Wildfangs, rund 40 Millionen Tonnen Fisch im Jahr, ginge an den Rest der Menschheit. "30.000 Schiffe fangen für uns diese Hälfte des Wildfangs und dreieinhalb Millionen Boote von Kleinfischern müssen sich mit der anderen Hälfte zufriedengeben – das ist das Ungleichgewicht", fasste Mari für watson zusammen.

Er ergänzte:

"Damit gehen über 20 Prozent des Fischs nicht in den direkten Konsum wie beim Soja, sondern werden zu Fischmehl verarbeitet, um damit unsere Teller hier mit Lachs und Shrimps aus Aquakulturen zu garnieren."
Francisco Mari, Referent für Welternährung und Meerespolitik bei Brot für die Welt

Es braucht eine Veränderung des Essverhaltens – weniger Lachs, mehr Algen

Als Teil des möglichen Lösungswegs schlägt Fischerei-Expertin Nicole Franz vor, mitunter auf die Kultivierung von Seetang oder Algen zu setzen. "Die stehen bei uns in Deutschland traditionell nicht so auf dem Menü, aber werden jetzt auf den globalen Meeresprodukt-Markt immer mehr gefördert. Und das ist etwas, wo die Kleinproduzenten auch eine Chance haben, richtig in den Markt reinzukommen", erklärte sie gegenüber watson.

Oft seien die Kosten das entscheidende Ausschlusskriterium für Kleinfischereien, eine Aquakultur zu starten: "Fischfutter, mit denen in großen Fischfarmen gearbeitet werden, sind sehr teuer." Deswegen sei die Investition in die vergleichsweise kostengünstige und pflegeleichte Seetang- und Algenzucht ein Teil der Lösung. Am Ende brauche es aber vor allem ein verändertes Kauf- und Essverhalten der Konsumierenden.

Franz kritisierte:

"Solange wir weiter lieber Lachs oder Krabben essen, was zur Produktion andere Fische als Futter braucht, bleibt das eine der Ursachen für Überfischung."

Aus Sicht von Francisco Mari von "Brot für die Welt" könnten Algen als Nahrungsmittel auch in Entwicklungsländern eine Fisch-Alternative bieten. "Aber nur, wenn sich hier dann nicht auch dieselben Verteilungsprobleme entwickeln und sie vor allem armen Menschen als Eiweißquelle zur Verfügung stehen", räumte er ein.

"Wenn Algen nur wieder als nachhaltigere Sushi-Beilage in den reichen Industrieländern vermarktet werden, dann wäre das keine Verbesserung", sagte er im Gespräch mit watson. "Wir brauchen nicht mehr Ersatzprodukte, sondern müssen das, was wir an Nahrungsmitteln bereits haben, besser verteilen und dem menschlichen Konsum direkt zuführen und nicht indirekt über Fischfutter für unsere Lieblingsfische verbrauchen", folgerte er. "Das wäre dann wirklich nachhaltig."

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