In der Nacht zu Freitag griffen russische Streitkräfte die Anlage des Atomkraftwerks Saporischschja an und lösten dort einen Brand ein einem Trainingskomplex aus. Am Freitagmorgen wurde der Brand nach Angaben des ukrainischen Innenministeriums gelöscht. Das Kernkraftwerk befindet sich jetzt unter der Kontrolle russischer Truppen.
Die ukrainische Regulierungsbehörde sagte, das Feuer am Standort habe "wesentliche" Ausrüstung nicht beeinträchtigt und das Werkspersonal ergreife Abhilfemaßnahmen, bisher wurde keine Änderung der Strahlungswerte in der Anlage gemeldet. Derzeit sei nur einer der sechs Reaktorblöcke in Betrieb. Die anderen seien abgeschaltet worden oder wegen routinemäßiger Wartungsarbeiten außer Betrieb. Die IAEO versetzt ihr Incident and Emergency Center (IEC) aufgrund der Situation im KKW Saporischschja in den vollen Reaktionsmodus, sagte der Generaldirektor der Internationale Atomenergie-Organisation (IAEA) Rafael Grossi in einer Pressekonferenz. Er kündigte an, persönlich zum ukrainischen Atomkraftwerk in Saporischschja zu reisen, um vor Ort die Sicherheit der Anlage zu prüfen.
Grossi forderte ein Ende der Gewaltanwendung und warnte vor ernsten Gefahren, falls Reaktoren getroffen würden. "Ich bin äußerst besorgt über die Situation im AKW Saporischschja und was dort in der Nacht passiert ist. Das Abfeuern von Granaten im Bereich eines Kernkraftwerks verstößt gegen das Grundprinzip, dass die physische Unversehrtheit kerntechnischer Anlagen jederzeit gewahrt und sicher gehalten werden muss", sagte er. Er berichtete auch, dass zwei ukrainische Sicherheitsmitarbeiter verletzt worden seien, nannte aber den Grund der Verletzung nicht. Der IAEA-Chef strebt ein Treffen in Tschernobyl mit Russland und der Ukraine an, um Sicherheitsgarantien für ukrainische Atomanlagen auszuhandeln.
Um die akute Gefahrensituation besser zu verstehen, hat watson die Einschätzungen der akuten Lage von zwei Atomsicherheitsexperten eingeholt:
Watson: Was genau kann die AKWs jetzt destabilisieren?
Mycle Schneider: Die Anzahl möglicher Szenarien ist unbegrenzt. AKWs sind hochkomplexe Anlagen, die für Friedenszeiten gebaut wurden und umfangreichen Regeln und der Kontrolle ihrer Einhaltung unterliegen. Im Krieg gibt es keine Regeln mehr. Zum Beispiel wurde berichtet, dass die russische Armee seit sieben Tagen keinen Schichtwechsel in Tschernobyl ermöglicht hat. In Saporischschja hat es laut Aussage des Konzernchefs der Betreiberfirma Energoatom gegenüber Le Monde mindestens drei Tote gegeben, das Management arbeite unter Waffengewalt und der Kontakt zum Kraftwerk sei unterbrochen. Stellen Sie sich vor, Sie arbeiten in einem dieser sechs AKWs. Zu Hause ist vielleicht das Haus zerbombt worden, oder jenes der Nachbarn. Sie haben Familienangehörige oder Freunde, die getötet wurden. Und zusätzlich kommt kein Schichtwechsel, keine Ruhe, wenig Schlaf. Das ist noch keine Bombe gefallen, aber das Sicherheitsniveau dramatisch gesunken.
Wolfgang Renneberg: Es gibt ganz viele Risiken dabei, wenn man ein Kernkraftwerk militärisch angreift oder dort Explosionen veranstaltet, da es nicht nur darum geht, eine dicke Betonhülle zu zerschlagen und große Sicherheitsbehälter faktisch zu zerstören.
Es kann passieren, dass allein Stromversorgungsleitungen getroffen werden, die für die Sicherheitssysteme zur Verfügung stehen, insbesondere um die Kühlsysteme zu versorgen. Denn auch ein Kernkraftwerk, das abgeschaltet ist, hat immer noch den Rest seines nuklearen Feuers in den Brennelementen, die weiterhin noch sehr heiß sind. Und auch Kraftwerke, die schon länger abgeschaltet sind, haben Brennelemente, in denen das ganze radioaktive Potential dieses Kernkraftwerks drinsteckt. Wenn diese Brennelemente zerstört werden, weil sie nicht mehr gekühlt werden können, dann gibt das eine große Katastrophe.
In der Nacht auf Freitag hat Russland nach ukrainischen Angaben das größte Atomkraftwerk Europas angegriffen. Auf dem Gelände des AKW in Saporischschja brach ein Brand aus, der am Morgen gelöscht wurde – laut IAEA sind aber wesentliche Ausrüstungen nicht vom Feuer betroffen. Wie schätzen sie die Lage ein, kann als Folge des Brandes doch noch radioaktive Strahlung austreten?
Schneider: Nach den bisherigen Berichten betraf das Feuer ein Ausbildungsgebäude und wurde gelöscht. Ein Feuer, auch in nicht-nuklearen Teilen einer Atomanlage, ist immer ein gefährlicher Vorfall; nicht nur wegen möglichen direkten Auswirkungen der Hitze sondern auch wegen Rauch und Ruß, die den regulären Betrieb anderer Anlagenteile beeinflussen können.
Renneberg: Das kann man von hier aus natürlich nicht einschätzen. Dazu muss man vor Ort sein. Es ist jetzt Aufgabe des ukrainischen Betreibers, der ukrainischen Behörden und international der IAEA, das zuverlässig zu überprüfen. In Kernkraftwerken gibt es, neben den Reaktoren selbst, noch viele weitere Stellen, an denen ein Beschuss gefährlich wird: es gibt viele Versorgungsleitungen, die teilweise auch unterirdisch verlaufen; es gibt Vernetzungen der einzelnen Blöcke sowohl mit Stromleitungen wie auch mit Rohrleitungen, durch die Kühlmittel strömen; es gibt dort die Notstromdiesel, die getroffen werden können.
Die wichtigste Nachricht der IAEA wäre also nicht, dass momentan das Feuer gelöscht sei und unmittelbar keine Radioaktivität ausgetreten sei. Sondern dass die Kühlung der Brennelemente nicht infrage steht. Aber diese Nachricht habe ich noch nicht gehört. Das wäre die entscheidende Nachricht, die die große Entwarnung auslösen würde.
Wie realistisch ist die Aussage von Selenskyj, dass Putin Nuklear-Terror betreibt?
Renneberg: Ja faktisch ist das natürlich so. Aber über die Absicht von Putin kann ich einfach zu wenig sagen, da wäre ich sehr vorsichtig mit solchen Einschätzungen. Momentan kann man nur spekulieren, ob er die Absicht hat, durch einen Beschuss einen kerntechnischen Unfall zu provozieren. Das glaube ich eher weniger, denn Putin will ja die Wirtschaftsmacht und die Infrastrukturen schon deshalb nicht wesentlich beschädigen, damit er hinterher die Ukraine als Wirtschaftsmacht auch nutzen kann.
Er würde auch durch radioaktiven Fallout Russland möglicherweise selbst schädigen. Zudem wäre die Internationale Wirkung politisch nicht wünschenswert für ihn. Aber es sollte natürlich auch in einem Krieg absolut verboten sein, mit Artillerie und Raketenwerfer in der Umgebung eines Kernkraftwerks herumzufeuern.
Vom Militär müsste erst recht ein gezielter Angriff auf ein Kernkraftwerk streng verboten sein. Und wenn so etwas nicht in der Armee von Putin verankert ist, dann ist das natürlich etwas, was entweder auf ein großes Versagen der Armee hindeutet oder alternativ auf eine Absicht Putins. Aber nochmal - die Absicht würde ich hier nicht unterstellen.
Schneider: Ein Atomkraftwerk – zumal das größte AKW Europas – ist als zentraler Knotenpunkt der Stromversorgung natürlich von strategischem Interesse für einen Besatzer. An einer Zerstörung mit der Freisetzung großer Mengen Radioaktivität kann auch Putin kein Interesse haben.
Was für konkrete Auswirkungen hat eine Zerstörung eines AKWs durch direkten Beschuss? Wären die Auswirkungen dann sogar noch schlimmer, als die von Tschernobyl?
Schneider: Ich halte einen absichtlichen Beschuss für unwahrscheinlich. Es gibt aber viele andere glaubwürdige Szenarien, wie es in dieser regellosen Zeit zu einer Katastrophe kommen könnte. Dazu gehört etwa der Abschuss eines Helikopters oder Flugzeugs, das auf sensible Anlagenteile stürzt. Eine fehlgeleitete Rakete oder panzerbrechende Waffe könnte das Reaktorgebäude und das Abklingbecken für abgebrannte Brennelemente beschädigen. Der Verlust des Kühlwassers würde zur Selbstentzündung der Brennelemente führen und große Mengen Radioaktivität in die Umwelt freisetzen. Die Abklingbecken enthalten das Mehrfache eines Reaktorkerns.
Der verletzlichste Teil des Systems ist die Stromversorgung. Auch abgeschaltete Atomkraftwerke produzieren immer noch sehr grosse Mengen an Restwärme, die abgeführt werden muss, dafür bedarf es Pumpen und Strom. Notstromaggregate – Dieselgeneratoren – sind notorisch unzuverlässig. Außerdem sind gelagerte Treibstoffmengen begrenzt und ebenfalls sehr verletzlich im Kriegsgeschehen.
Renneberg: Dafür muss man zunächst erstmal einschätzen, was es dort gibt. Es ist dort so viel radioaktivstrahlendes Material vorhanden, dass eine physische Zerstörung aller Brennelemente, die dort auf dem gesamten Gelände lagern, eine ungeheure Freisetzung bedeuten würde - eine Freisetzung von Radioaktivität, wie wir sie bislang noch nicht erlebt hätten. Natürlich hätte dieses Szenario dann auch internationale Auswirkungen, insbesondere für uns dann, wenn der Wind stark in Richtung Westen weht.
Nur, von der Annahme, dass eine Zerstörung der ukrainischen AKW gewollt ist, würde ich nicht ausgehen. Ich gehe davon aus, dass Putin die Stromversorgung gerne kontrollieren möchte, dass er auch dann daran Interesse hat, solch ein Potential in seine Macht zu bringen. Aber ich glaube nicht daran, dass er tatsächlich ein AKW zerstören möchte, denn das würde seinen eigenen Machtinteressen widersprechen.