Das Arctic National Wildlife Refuge im Norden Alaskas umfasst beinahe 80.000 Quadratkilometer unberührte Wildnis – damit ist es das größte Naturschutzgebiet der USA. Für die Doku "Naturwunder Nordalaska – Ein Paradies in Gefahr" (11. Januar, 20.15 Uhr, ARD) war Filmemacher Florian Schulz fünf Jahre lang immer wieder in dieser so extremen Natur Nordalaskas unterwegs. Er begleitete die Karibus auf ihrer langen und gefahrvollen Wanderung ans Nordpolarmeer. Mit Luftaufnahmen zeigt er, wie die riesigen Herden im Frühjahr und am Ende des Sommers das schwierige Gebirgsterrain überwinden und dabei von Wölfen und Grizzlybären verfolgt und angegriffen werden.
Schulz liefert faszinierende Bilder der farbenfrohen arktischen Tundra und zeigt, dass in der vermeintlichen Einöde überbordendes Leben zu finden ist. Seine bedrückenden Aufnahmen von gestrandeten Eisbären, denen ihr Lebensraum zunehmend genommen wird, rufen aber auch ins Bewusstsein, wie verletzlich die Arktis ist und wie sehr sie den Schutz des Menschen bedarf.
Im Gespräch mit watson erklärt Schulz, was ihn bei seiner Arbeit antreibt, woran es liegt, dass die Natur heute so sehr von uns Menschen bedroht wird und was wir alle dagegen tun können.
watson: Wie lange haben Sie an "Naturwunder Nordalaska – Ein Paradies in Gefahr" gearbeitet?
Florian Schulz: Ich hab 2014 angefangen. Ich arbeite an diesen Themen aber schon seit 20 Jahren, die Begeisterung dafür hat schon früh angefangen. In dem Film geht es ja um die Arctic Refuge, also das nördlichste und größte Naturschutzgebiet der USA, das hat mich schon immer fasziniert. Das erste Mal war ich dort im Jahr 2000. Seit dem Jahr 2014 habe ich jedes Jahr viele Monate dort verbracht.
Ist es da oben nicht auch oft sehr einsam?
Dieser Teil meiner Arbeit, der Natur näherzukommen, war immer ganz wichtig für mich. In der heutigen Zeit, wo viele nicht mal eine Minute am Tag ohne ihr Handy sein können, ist es wahrscheinlich schwer nachzuvollziehen, dass man monatelang draußen in der Wildnis sein kann, ohne Netz oder irgendwas. Das hat teilweise auch meditativen Charakter, wo man sich auf die Natur nochmal ganz anders einlässt.
Wie muss man sich diesen Ort denn vorstellen?
Das Gebiet ist gar nicht über irgendwelche Straßen zu erreichen. Das waren immer richtige Expeditionen in die Wildnis. Die Arctic Refuge ist ja unglaublich groß, doppelt so groß wie die Schweiz. Es ist ein absolut menschenleerer Ort. Und obwohl es die größte Wildlife Refuge in Nordamerika ist, wissen die meisten Menschen sehr wenig darüber. Dieses Unwissen haben Politiker immer wieder ausgenutzt, indem sie gesagt haben, dieser Ort sei sowieso nur ein großes, weißes Nichts, ein trostloses Ödland. Deswegen bin ich mit meiner Kamera losgezogen, um zu sehen, was ich tatsächlich finden würde.
Wie gehen Sie vor, wenn Sie so einen Film drehen?
Die fotografischen Schritte, bis man gute Bilder bekommt – das geht mit der Zeit in etwas Intuitives über. Oft muss ich das Verhalten der Tiere ein bisschen voraussehen. Das Bild, was als nächstes passiert, habe ich oft schon vor dem inneren Auge. Ich sehe die Lichtverhältnisse, die Landschaft, die Bewegung der Tiere und ahne, wo es sich hinbewegt.
Was war besonders schwierig an diesem Dreh?
Mir war es wichtig, Luftaufnahmen drin zu haben, die die großen Bewegungen der Karibu-Wanderungen anschaulich machen. Das zu schaffen, war eine riesige Herausforderung, wir sind mit Buschflugzeugen in die Wildnis hineingeflogen. Ich hab über Wochen mit meinem Bruder Salomon Schulz bei -30 oder -40 Grad gecampt. Da tanzt dann die Aurora Tatis nachts über dem Zelt – das sind Erlebnisse, die einen mit der Natur verbinden.
Haben Sie manchmal auch Angst, dass Ihnen in der Einöde etwas passieren könnte?
Man muss sich in vielen Momenten klarmachen, dass man auf sich gestellt ist. Ich hab ein Satellitentelefon im Basecamp, aber wen ruft man da an? Da kommt ja keine Ambulanz. Vor den Tieren habe ich keine Angst, seien es Wölfe, Grizzly- oder Eisbären. Man muss sich halt darauf einstellen, dass ab und zu ein Bär direkt auf einen zukommt – für die Filmaufnahmen will man das ja auch. Da ist es einfach wichtig, Ruhe zu bewahren und zu wissen, wie man mit der Situation umgeht. Ich halte dann mein Stativ über den Kopf, mache mich also groß und rede beruhigend auf den Bären ein, so: Hey, alles okay, mach dir keine Gedanken. Andere Gefahren sind zum Beispiel, mit dem Flugzeug abzustürzen oder im Eis einzubrechen. Da geht es ums Überleben.
Davor haben Sie also mehr Angst?
Ein Tier kann ich lesen und einschätzen, kann es durch meine Handlungen beeinflussen. Wenn man in kaltes Wasser fällt oder mit dem Flugzeug abstürzt, ist das anders.
Wie ist es eigentlich, nach einer längeren Zeit in der Wildnis wieder in eine große Stadt zu kommen?
Das sind extrem unterschiedliche Welten, das ist schon ein Kulturschock. Wenn ich da draußen bin, schaffe ich es viel mehr, im Rhythmus mit der Natur zu leben. Ich bin nicht ständig am Handy oder lese meine E-Mails. Wenn ich dann zurückkomme, habe ich immer Angst vor diesem Email-Berg. Dieses ununterbrochene Immer-weiter, dieser extreme Konsum – und da draußen ist es so reduziert. Da merkt man, man könnte ganz anders leben. Auf jeden Fall sind es zwei sehr gegensätzliche Welten, und man muss in beiden zurechtkommen.
Sie meinten vorhin, die Politiker nutzen das Unwissen über die Arktis oft aus. Was meinen Sie damit?
Die Arctic Refuge ist eine der am härtesten umkämpften Naturschutzgebiete Nordamerikas. Seit Jahrzehnten gibt es ein Tauziehen zwischen Interessen der Ölindustrie, hauptsächlich durch die Republikaner vertreten, und den Menschen, die das Gebiet permanent unter Schutz stellen wollen, unterstützt von den Demokraten. 2017 ist es Präsident Trump erstmals gelungen, in der Steuerreform ein Gesetz als Anhang unterzubringen, dass dort nach Öl gebohrt werden darf. Als einzelnes Gesetz konnte das bisher nie durchgeboxt werden, weil die Mehrheit der Amerikaner dagegen ist. Aber Trump hat es mit dem Argument dort untergebracht, dass er damit die Steuerreform finanzieren würde. Das ist eine Lüge. Die Milliarden und Abermilliarden, die die Superreichen an Steuern geschenkt bekommen haben, kann man damit niemals ausgleichen.
Nun ist Trump ja abgewählt.
Es besteht dennoch eine große Gefahr, dass das umgesetzt wird. Die Trump-Regierung versucht, das in ihren letzten Zügen noch durchzuboxen.
Sehen Sie sich mehr als Naturfilmer oder als Aktivist?
Für mich ist es schon seit eh und je eine Herzensangelegenheit, mich für den Schutz der Natur einzusetzen. Wenn Politiker zum Beispiel ein Naturschutzgebiet als nutzloses Ödland beschreiben, ist es meine Motivation als Filmer, spektakulärste Bilder zu erschaffen, damit die Leute merken, wow, DAS ist es, was wir in Alaska heute noch vorfinden. Hunderttausende Karibus, die durch die Landschaft ziehen. Außerdem unterstütze ich gezielt Naturschutzorganisationen und gehe auch selbst direkt nach Washington, um mich dort mit Politikern zu unterhalten. Das sind die unterschiedlichen Herangehensweisen, wie ich mich für Naturschutz einsetze.
Woran liegt es Ihrer Meinung nach denn, dass die Natur heutzutage so bedroht ist, dass man sie schützen muss?
Die meisten Leute leben heutzutage weit von der Natur entfernt. Die Natur ist für sie irgendwo weit draußen. Es ist für viele schwierig, eine nahe Herzensverbindung zur Natur zu haben. Deswegen ist es leicht, der Industrie oft den Vorrang zu geben. Hier in Amerika heißt es immer, wir brauchen unsere Energie-Unabhängigkeit. Das höchste Gut sind immer die Shareholder, die Aktionäre, und ihr Profit. Nach diesen Prinzipien beurteilen wir alles. Deshalb ist es der Bevölkerung leicht zu verkaufen: Wir müssen in dieses Gebiet rein, damit die Wirtschaft weiter wachsen kann.
Wachstum, das alte Totschlagargument.
Wobei das heute total verdreht ist: Wenn wir weggehen würden von fossilen Brennstoffen und auf erneuerbare Energien setzen würden, würde das einen unglaublichen Arbeitsboom bedeuten. Deshalb ist es auch ein starker Kampf darum, wie man die richtigen Informationen unter die Leute bekommt. Wir leben in einer Zeit, wo jedem absolut klar sein sollte, dass wir nicht so weitermachen können. Wir können nicht weiter fossile Brennstoffe verbrennen, weil wir uns damit unsere eigene Lebensgrundlage nehmen. Hier in Alaska saßen wir 2019 drei Monate lang im dichtesten Rauch, weil die Wälder in Alaska gebrannt haben.
Woher kommt denn Ihre Verbundenheit mit der Natur?
Ich hatte als Kind das Glück, dass ich viel draußen spielen konnte. Das Pfrunger Ried lag vor der Haustür, eines der größten Moorgebiete Süddeutschlands. Da haben wir als Kinder kleine Lager gebaut. Das heißt, man hat die Natur wirklich hautnah erlebt, den Wald gerochen, die Witterung gespürt. Diese Erfahrungen waren sicher wichtige Wurzeln. Das hat bei mir zu der Erkenntnis geführt, wie verletzlich die Natur ist, und dass sie ein vernetztes Stück Leben ist.
Was muss Ihrer Meinung nach passieren, dass sich grundlegend etwas verändert?
Die Welt macht sich noch nicht entschieden genug klar, wie man gezielt im Einklang mit der Natur handelt, weniger konsumiert. Deswegen war ich froh, dass die Welt während der Corona-Krise bemerkte, das Leben geht trotzdem weiter, auch wenn es in vielen wirtschaftlichen Bereichen Einbrüche gab. Gegen den sofortigen Umstieg auf erneuerbare Energien wird ja immer das Argument vorgebracht, das würde der Wirtschaft schaden, 'das können wir uns nicht leisten'. Jetzt mussten wir uns ein Jahr Corona leisten – und irgendwie geht das Leben doch weiter.
Sind Sie denn optimistisch, dass wir die Wende noch schaffen?
Es wird schon knapp. Gleichzeitig darf man nicht die Hoffnung aufgeben. Ich verbrenne natürlich auch noch fossile Brennstoffe. Wichtig wäre, sich politisch für die Leute einzusetzen, die eine klare Wende wollen. Nicht nur ein bisschen, sondern richtig. Wenn man dagegen auf "Fake News" hört oder sich sagt, ich lebe jetzt, alles andere ist mir egal, dann macht man halt so weiter. Natürlich kann man darauf achten, Produkte zu konsumieren, die am wenigsten Ressourcen verbrauchen. Aber ich denke, es ist sehr wichtig, da auch weiter darauf zu pochen, dass es wirklich einen Umschwung gibt, eine grünere Welt.
Wie kann das konkret aussehen?
Zum einen sollte man sich lokal engagieren. Das fängt mit der Entscheidung an, welchen Strom man kauft. Das ändert ja nicht deine Lebensqualität, sondern setzt einfach ein Signal. Aber man sollte sich auch politisch dafür einsetzen, dass nicht immer wieder neue Pestizide zugelassen werden. Dass wir immer noch Glyphosat benutzen – es ist ja klar, welche politischen Parteien hinter solchen Dingen stehen.
Sie haben ja auch Kinder, geben Sie denen das auch weiter?
Wir achten schon darauf, dass wir die Naturverbundenheit an sie weitergeben. Da gibt es aber keine "Screentime" auf dem Handy oder iPad. Wir versuchen vielmehr, ihre Kreativität zu fördern und schenken ihnen beispielsweise ein Fernglas, mit dem sie die Natur wahrnehmen und zum Beispiel Vögel beobachten können. Wenn sie mit uns raus in die Wildnis gehen, wird es denen nicht langweilig. Die sagen nicht: Ich will zurück und fernsehen. Sie spielen da draußen mit ihrer Fantasie, sammeln etwa Geweihe von den Karibus und sind einfach unglaublich glücklich. Was ich als Kind erlebt habe, will ich ihnen weitergehen, diese Nähe zur Natur. Das ist auch meine Botschaft an junge Eltern: Mit Kindern viel rausgehen, damit sie die Natur spüren können, das gibt ihnen unglaublich viel.