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Letzte Generation: Wut, Schläge, Tritte – und warum Lea das in Kauf nimmt

Lea-Maria Rhein hat große Angst vor dem Klimakollaps. Zivilen Widerstand zu leisten, erscheint ihr der letzte Ausweg, um die Politik zum Handeln zu bringen.
Lea-Maria Rhein hat große Angst vor dem Klimakollaps. Zivilen Widerstand zu leisten, erscheint ihr der letzte Ausweg, um die Politik zum Handeln zu bringen.bild: privat
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"Ich hau dich gleich richtig kaputt": Wie Lea sich Wut und Klimakrise entgegenstellt

23.04.2023, 16:04
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Die Kreuzung vor dem Hamburger Hauptbahnhof ist erfüllt von blinkendem Blaulicht. Sechs Polizeiautos, sechs Polizeimotorräder und über 44 Polizist:innen stehen Spalier. Bewachen die Kreuzung. 200 Meter die Straße runter – noch mehr Polizist:innen.

Der Grund für ihr Aufgebot: Eine Protestaktion der Klimaaktivist:innen der Letzten Generation. Zu siebt haben sie die Kreuzung blockiert, sich auf die Straße gesetzt, zum Teil mit den Händen festgeklebt. Aus Angst. Vor der Klimakrise. Und vor dem, was droht, wenn alles weiterläuft wie bislang.

Aggression.

Die Autofahrer:innen sind wütend, weil sie nicht weiterfahren können.
Die Autofahrer:innen sind wütend, weil sie nicht weiterfahren können. bild: watson / josephine andreoli

Eskalation.

Die Autofahrer:innen haben kein Verständnis.

Für sie ist die Aktion der Klimaaktivist:innen vor allem eines: Ein Eingriff in ihren Alltag. Verzögerung. Stau.

Die Zeit läuft, aber sie stecken fest. Und können nichts dagegen tun.

Eigentlich geht es ihnen wie den Klimaaktivist:innen auch. Nur anders.

Aber das wollen sie nicht wahrhaben.

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Eineinhalb Stunden zuvor.

Lea, 21 Jahre alt, steht vor einem Café in der Hamburger Innenstadt. Sie trägt eine schwarze Regenhose und einen dicken Parka, darunter eine Fleece-Jacke. Sie ist nervös, ihr Blick schweift die Straße auf und ab. Immer wieder streicht sie sich die Haare aus dem Gesicht, als wüsste sie nicht, wohin mit dem Adrenalin, der Angst. Sie scheint allgegenwärtig.

Es ist 16.02 Uhr. Das Café, in das Lea geht, ist der vereinbarte Treffpunkt der Letzten Generation. Von hier aus soll es wenig später losgehen zu dem Ort, der blockiert werden soll. Wo genau sie hingehen werden, weiß Lea nicht. Diese Information hat immer nur eine:r von ihnen. Aus Sicherheitsgründen, damit die Aktion nicht schon vorab von der Polizei verhindert werden kann. Weil sich jemand verplappert oder die Presse davon erfährt.

An dem kleinen Tisch zwischen lachenden Studierenden und am Laptop arbeitenden Menschen ist die Anspannung der Aktivist:innen auf den ersten Blick nicht ersichtlich. Sie wirken wie eine bunt zusammengewürfelte Gruppe von Freund:innen, manche älter, andere jünger.

Aber sie alle eint die Angst vor dem, was ihnen droht. Sie schwebt über allem, schweißt die Gruppe zusammen.

Nicht auffallen: Die Aktivisten geben sich nicht als solche erkennbar

Lea begrüßt die anderen Aktivist:innen mit einer festen Umarmung und setzt sich, den Rucksack an sich gepresst. "Alles in Ordnung bei euch?", fragt einer und lässt seinen Blick über die Teilnehmenden schweifen. Knappes Nicken, nervöses Lachen.

Keiner muss mitmachen. Doch sie alle wollen. Trotz der Angst, oder vielleicht auch gerade deswegen.

Eine der Aktivist:innen zieht einen dicken Filzstift aus der Tasche und reicht ihn weiter. Alle notieren sich eine Telefonnummer auf dem Arm, der Hand, dem Schienbein. Denn sollten sie von der Polizei mitgenommen werden und im Gefängnis landen, steht ihnen genau ein Anruf zu. An wen der gehen sollte, haben sie vorab festgelegt: Damit sie Hilfe bekommen, um schnellstmöglich wieder aus dem Gefängnis zu kommen.

Für den Fall der Fälle.

Es ist 16.27 Uhr. Gleich geht es los. Die Anspannung steigt. Eine Aktivistin sieht sich hektisch in dem Café um. Bloß keine Aufmerksamkeit erregen. Mit einer schnellen Bewegung zieht sie einen Banner und orangefarbige Warnwesten aus ihrem Rucksack. Warnwesten, Banner und Flyer werden unter dem Tisch ausgetauscht gegen Handwärmer und Wärmepflaster. Klammheimlich, fast wie bei einem Drogendeal.

Die Aktivisten haben Angst vor Aktionen, aber noch mehr vor der Klimakrise

Eine der Aktivist:innen fragt nach den Handys der Teilnehmenden. Damit diese, falls sie von der Polizei mitgenommen werden sollten, nicht als Beweisstücke einbehalten werden. Bei dieser Aktion wollen sich sieben von ihnen auf die Straße kleben. Die anderen mischen sich unter die Umstehenden, geben sich nicht als Aktivist:innen zu erkennen. Behalten alles im Auge, hüten die Handys.

"Ich bin schon sehr aufgeregt heute und habe auch ein bisschen Angst. Aber ich bin froh, dass ich dabei bin."
Lea von der Letzten Generation

"Habt ihr alles, was ihr braucht?", fragt der einzige Aktivist, der weiß, wo es gleich hingeht. Fleece, Jacke, Schal. Lea wirft einen Blick in ihren Rucksack: Warnweste, Banner, Flyer, Sitzpolster. Sie nickt. "Machen wir noch ein Check-in?", fragt sie und klingt dabei fast bittend. "Ja, natürlich."

"Ich bin schon sehr aufgeregt heute und habe auch ein bisschen Angst", sagt Lea. Ihre Stimme ist höher als normal, fast klingt der Satz wie eine Frage. "Aber ich bin froh, dass ich dabei bin und freue mich auf die Aktion", schließt sie. Im Uhrzeigersinn geht es reihum, jede:r erzählt kurz, wie es ihr oder ihm geht. Schnell noch einmal vom Brot abbeißen, einen Schluck Tee oder Kaffee trinken. Wer weiß schon, wie lange sie auf der eisig kalten Straße sitzen werden.

Dann geht es los. Nicht geschlossen, sondern in Kleingrüppchen. Bloß nicht auffallen. Bloß nicht die Aktion gefährden.

Ein paar Minuten später stehen sie vor der achtspurigen Kreuzung direkt beim Hamburger Hauptbahnhof. Die Anspannung ist fast greifbar, kaum eine:r sagt ein Wort.

Wer die Aktivist:innen begleitet, merkt gleich: Gern tun sie das nicht. Doch die Angst vor dem, was passiert, wenn die Klimakrise weiter ihren Lauf nimmt, ist größer als die vor wütenden Autofahrer:innen, der Polizei, dem Gefängnis.

Gegen die Wut, gegen die Angst

Es ist Feierabendverkehr. Nahtlos fließen die Autos an ihnen vorbei. Gleich ist es so weit, die Fußgängerampel springt auf Grün.

Es ist ihr Signal.

"Ich hau dich gleich richtig kaputt!"
Autofahrer gegenüber den Aktivist:innen

Jetzt geht es los.

Nacheinander gehen sie los, jede:r kennt seinen Platz – wie bei einer eingeübten Choreografie. Lea schlägt das Herz bis zum Hals. Es ist das vierte Mal, dass sie sich auf die Straße klebt.

Auge um Auge mit den Autofahrer:innen.

David gegen Goliath.

In dem Moment, in dem sich die Aktivist:innen in einer Reihe vor den Autofahrer:innen aufgestellt haben und mit einem schnellen Handgriff Warnweste und Banner aus den Taschen und Rucksäcken ziehen, realisieren die Autofahrer:innen auch schon, in was sie da hineingeraten sind. Ärger breitet sich auf ihren Gesichtern aus.

Die Fußgängerampel springt wieder auf rot um. Doch Lea und die anderen bleiben stehen, den Banner fest umklammert. "Letzte Generation vor den Kipppunkten", steht darauf in großen Lettern.

Hupen. Wütende Schreie.

"Haut endlich ab!", brüllt ein Mann, das Gesicht rot und vor Wut verzerrt. Binnen von Sekunden springen fünf Männer aus ihren Autos.

Es ist das Signal für Lea und ihre Mitstreiter:innen, sich auf die Straße zu setzen. Festkleben tun sie sich erst dann, wenn die Polizei vor Ort ist. Aus Sicherheitsgründen. Weil wütende Menschen sie einfach von der Straße reißen könnten.

"Ich hau dich gleich richtig kaputt!", brüllt ein Mann im schwarzen Trainingsanzug. Spucke fliegt. Doch Lea bleibt sitzen, rührt sich nicht vom Fleck. "Es tut mir leid, aber ich muss hier sitzen bleiben", sagt sie mit ruhiger Stimme. Er geht schnellen Schrittes auf sie zu, reißt sie unter den Achseln hoch, schleift sie an den Straßenrand und lässt sie unsanft auf den Boden fallen.

Der Mann rennt zurück zu seinem Wagen, springt rein – und fährt los. Er rast mit quietschenden Reifen über die Kreuzung – trotz der roten Ampel. Und trotz des Aktivisten, dem er dabei beinahe über die Füße fährt.

Gewalt gegen friedliche Blockaden

"Ich muss mit meinem Kind ins Krankenhaus, lasst mich durch", brüllt eine Frau und drückt aufs Gas. Sie fährt. Und sie bleibt auch dann nicht stehen, als die Motorhaube schon den auf der Straße sitzenden Aktivisten berührt.

Es ist ein Phänomen, das Lea und die anderen schon kennen. Wann immer sie sich vor die Autofahrer:innen stellen, müssen diese urplötzlich ins Krankenhaus.

Die Polizist:innen versuchen Lea von der Straße zu lösen, die sich mit Sekundenkleber festgeklebt hat.
Die Polizist:innen versuchen Lea von der Straße zu lösen, die sich mit Sekundenkleber festgeklebt hat. bild: letzte generation

"Ihr Arschlöcher! Haut ab mit eurem dämlichen Klimaschutz –niemand interessiert sich dafür, und so erreicht ihr sowieso nichts", brüllt ein Mann und greift nach einem auf dem Boden sitzenden Aktivisten, reißt ihn in die Höhe und schleift ihn über die Straße. Er holt aus und schlägt ihm volle Kanne ins Gesicht. Der junge Mann fällt auf den Asphalt. Niemand kommt ihm zur Hilfe. Wortlos steht er auf, setzt sich wieder auf die Straße.

Plötzlich ist die Kreuzung erfüllt von blinkendem Blaulicht. Die Polizei ist da.

Lea greift in die Tasche, zieht den Sekundenkleber heraus und klebt sich fest. Jetzt kann es richtig losgehen.

Jetzt ist die Zeit, um zu zeigen: So wie es jetzt ist, kann es nicht bleiben.

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