Polina Oleinikova und Arshak Makiychan wissen, wie es sich anfühlt, alles zu riskieren: Für den Klimaschutz, für die Liebe, für sich selbst.
Es war der Morgen ihrer Hochzeit, der 24. Februar 2022, der für das Moskauer Paar alles veränderte. Es war der Morgen, an dem der russische Präsident Wladimir Putin seinen Angriffskrieg in der Ukraine begonnen hatte.
Dass er versuchen würde, seine Macht im Osten des Landes auszuweiten, hatten sie geahnt. Aber dass er ernsthaft vorhatte, das ganze Land einzunehmen, überrumpelte sie doch. "Wir waren schockiert", sagt Oleinikova im Gespräch mit watson.
Statt sich auf ihre Hochzeit zu freuen, bricht Oleinikova in Tränen aus. An einem solch furchtbaren Tag konnten sie doch nicht heiraten! Das Paar ist unsicher, überlegt hin und her – entscheidet sich dann aber doch für die Hochzeit. Jetzt erst recht. Nicht nur aus Liebe, sondern auch aus Sicherheitsgründen.
Denn in Russland gilt, wie in Deutschland auch: Wer verheiratet ist, muss nicht gegen seinen Ehepartner aussagen. Und weil sowohl Oleinikova als auch Makiychan schon mehrfach im Gefängnis saßen, wollen sie dieses Recht auf ihrer Seite wissen. Zu groß scheint ihnen die Gefahr, gegeneinander ausgespielt zu werden, einander verraten zu müssen.
Nach der Trauung, die das Paar allein mit dem Fotografen feiert, gehen Oleinikova und Makiychan demonstrieren: Gegen Putins Angriffskrieg in der Ukraine, für den Frieden. Am Tag darauf werden sie festgenommen.
Dass die Welt vor einem Problem steht, wurde Arshak Makiychan erstmals 2018 durch die Klimastreiks von Greta Thunberg und die neu entstehende Bewegung "Fridays for Future" bewusst. "Ich habe davor immer mal auf der Internetseite von Greenpeace und Peta gestöbert, da war mir schon klar, dass wir ein Umweltproblem haben", sagt Makiychan gegenüber watson. "Aber wie groß das Problem ist und wie weitreichend, das habe ich nicht geahnt."
In der Schule wird die Klimakrise in Russland nicht thematisiert. Und auch an der Uni und in den Medien findet die Thematik kaum statt.
Makiychan stürzt sich in die Recherche. Für ihn ist schnell klar: Er kann nicht weitermachen wie bislang. Er kann nicht länger unpolitisch bleiben.
Doch politisch zu sein, birgt in Russland viele Risiken. Für Makiychan bedeutet es, seine Lebensplanung über den Haufen zu werfen, seinen Traum, Violinist zu werden, aufzugeben. Denn: Studieren und Karriere machen, vor allem in den staatlichen Konzerthäusern, kann nur, wer sich der Politik Putins beugt. Und nicht aufmuckt. Aber das kommt für Makiychan nicht länger in Frage, er ist sich sicher: Er muss für den Klimaschutz kämpfen.
Im März 2019 geht er zum ersten Mal auf die Straße, organisiert fortan Fridays-for-Future-Streiks in ganz Russland. Mal ist er allein, mal gesellen sich 20, 25, 30 Menschen zu ihm. Mal dauert der Streik nur wenige Sekunden, weil sie sofort ermahnt werden. Mal klappt es für eine Viertelstunde. Immerhin. Der Druck der russischen Regierung aber hält "Fridays for Future" klein. Kaum jemand traut sich, seine Meinung offenkundig auszusprechen.
Doch Makiychan gibt nicht auf. 110 Freitage hintereinander steht er auf der Straße.
Bis er am 20. Dezember plötzlich festgenommen wird. Obwohl er nichts weiter getan hatte, als einen "Fridays for Future"-Sticker an eine Mauer zu kleben. Sechs Tage Gefängnis.
Die Tage ziehen sich, die Minuten verstreichen nur langsam.
Langeweile.
Warten.
Ausgeliefert sein.
"Das Einzige, das mir Mut gemacht hat, war, dass ich international von Fridays for Future Unterstützung bekommen habe, sie haben vor der russischen Botschaft für meine Freilassung demonstriert. Das hat der Regierung hier gar nicht gefallen und sie unter Druck gesetzt, mich freizulassen", sagt Makiychan.
Polina Oleinikova geht es ähnlich. Auch sie geht auf die Straße, protestiert für mehr Klimaschutz. Gerät dadurch in Konflikt mit der Polizei.
Im August 2021 stößt sie über Instagram auf einen Post von Arshak Makiychan, der schreibt, protestieren gehen zu wollen. Oleinikova überlegt nicht lange, schreibt ihm eine Nachricht. Fragt, ob sie sich ihm anschließen könne. Natürlich, antwortet Makiychan kurze Zeit später. Die beiden verstehen sich auf Anhieb, planen weitere gemeinsame Aktionen, verlieben sich.
Am 17. Januar 2022, da wird Oleinikova längst von der Polizei überwacht und mit ihr ihre Familie, Freunde und auch Makiychan, verlässt sie ihr Haus, um Plakate mit Bildern unterdrückter Aktivist:innen aufzuhängen. Plötzlich ist sie umzingelt von Polizisten, muss eine Nacht im Gefängnis verbringen.
"Die Polizisten haben mir gedroht, sich vor mir aufgebaut und mich unter Druck gesetzt", sagt Oleinikova. Ihre Stimme klingt trocken. "Sie wollten wissen, wo Arshak ist. Und haben gefragt, was mit meiner Mutter sei, ob sie wirklich so krank wäre." Oleinikova ist schockiert. Ihre Mutter – krank? Davon hatte sie nichts gewusst.
Ihre Gedanken rasen. Aber sie bleibt still. Bloß nicht unter Druck setzen lassen.
Im Gefängnis ist es klamm, der Boden, auf dem Oleinikova schlafen muss ist eiskalt. Von überall her hört sie Menschen schreien, weinen. "Es war einfach grausam."
Am nächsten Morgen darf sie gehen. Sie macht sich auf den Weg zu Arshak, versteckt sich einige Tage in seiner Wohnung. Weil sie das Risiko nicht eingehen will, noch einmal ins Gefängnis zu müssen.
Oleinikovas Mutter ist besorgt. Und auch Makiychans Eltern haben Angst. Nicht nur um ihren Sohn, auch um sich selbst. "Meine Eltern haben zu mir gesagt: 'Warum kannst du nicht normal sein? Warum musst du das System kritisieren?'", erzählt er. "Sie wollten, dass ich Violine spiele und den Mund halte."
Mit seinem ehemaligen Freundeskreis aus dem Musikstudium hat Makiychan nichts mehr zu tun. "Ich kann nichts mehr mit Menschen anfangen, die nicht sehen, wie katastrophal falsch alles läuft und was passiert." Seine heutigen Freunde sind fast ausnahmslos aktivistisch tätig. Die meisten haben Russland verlassen.
Am 25. Februar, einen Tag nach ihrer Hochzeit, verlassen Oleinikova und Makiychan gemeinsam ihre Wohnung. Oleinikovas Gesicht ist mit Kunstblut bedeckt, sie trägt eine russische Militärsuniform. Ihre Botschaft: Stoppt den Krieg in der Ukraine. Die Polizisten sind sofort zur Stelle. Nehmen sie fest.
Einige Stunden später sind sie wieder auf freiem Fuß. In ihnen brodelt die Wut. Sie wollen, sie können nicht zulassen, dass der Krieg in der Ukraine weiter eskaliert. Sie gehen wieder auf die Straße, am 27. Februar, am 6. März. "Wir wollten einen Unterschied machen", sagt Oleinikova.
Aber der Druck nimmt zu. "Meine Familie wollte, dass ich Russland verlasse, zu meiner eigenen Sicherheit und ihrer", sagt Oleinikova. Ihr Blick schweift einen Moment ab. Seit sie am 17. Januar das erste Mal ins Gefängnis kam, wird ihre Familie bedroht. Bis heute weiß Oleinikova nicht, ob es stimmt, was die russischen Polizisten ihr gesagt haben, dass ihre Mutter schwerkrank ist.
Sollten sie Russland wirklich verlassen?
Oleinikova und Makiychan überlegen hin und her, checken die Preise der nur noch wenigen Flüge, die Russland verlassen: zu teuer. Und überhaupt: Wo sollten sie denn hin? Dann finden sie eine Busverbindung nach Deutschland, der Preis passt. Damit steht ihr Entschluss fest.
19. März 2022: Sie packen ihre Tasche, setzen sich in den Bus. Es ist, als würden sie einen kleinen Ausflug in ihre Vergangenheit unternehmen. Sie passieren ihre Schule, den Ort an dem sie demonstriert hatten, ihr Zuhause. Oleinikova weint.
Würden sie jemals wiederkommen?
Ihre Reise geht von Moskau über Belarus und Polen bis nach Deutschland, Berlin. Drei Tage lang sind sie unterwegs. "Wir hatten große Angst, vor allem an den Grenzen. Wir sind russische Aktivisten. Für die sind wir Verräter", sagt Oleinikova.
Aber sie schaffen es.
Berlin: Es ist ein Neuanfang.
Erleichterung macht sich in ihnen breit.
Sie sind frei.
Protest ohne Konsequenzen.
Meinungsfreiheit ohne Konsequenzen.
Weil Arshak Makiychan durch seinen Aktivismus für "Fridays for Future" gut vernetzt ist, finden sie in Berlin schnell eine Unterkunft.
Am 25. März findet der internationale Klimastreik statt. Oleinikova und Makiychan sind an vorderster Front dabei. "Es war ein tolles Gefühl, ohne sich bedroht und gefährdet zu fühlen, auf die Straße und demonstrieren gehen zu können", sagt Oleinikova. In ihrer Stimme schwingt Erleichterung mit.
Über Wochen hatte sie in ihrer Handtasche alles Notwendige dabei gehabt, falls ihr etwas passieren würde – falls sie inhaftiert würde. "Ganz abgelegt habe ich diese Gewohnheit noch nicht, aber es wird schon etwas besser", sagt Oleinikova. Sie lacht, hält inne.
Und wird still.
"Es ist ein merkwürdiges Gefühl, so hier sitzen, reden und lachen zu können, wo doch so viele schlimme Dinge in der Ukraine passieren." Makiychan nickt. Sie fühlen sich unwohl dabei, sich selbst in Sicherheit zu wähnen, wo doch so viele andere Menschen in Gefahr schweben. Ihr Leben riskieren – für mehr Klimaschutz, für ein Ende des Krieges. "Putin ist nicht erst am 24. Februar zum Monster geworden, das war er schon immer."
Vielleicht wollen sie zurück nach Russland gehen.
"Keiner weiß, was jetzt das Richtige ist", sagt Oleinikova. "Jetzt könnte genau der richtige Zeitpunkt sein, um in Russland zu demonstrieren. Auch wenn es gefährlich ist. Protest könnte Hoffnung stiften. Oder aber es könnte unfassbar dumm sein." Sie scrollt durch die Nachrichten-App auf ihrem Handy, überlegt einen Moment. "Ich will keine Entscheidung aufgrund von Angst treffen. Ich will meine Entscheidungen selbstbestimmt treffen."
Es macht den Eindruck, als würden sie schon bald wieder nach Russland zurückkehren.