Eigentlich sollte das Kapitel "Atomkraft" in Deutschland mit dem Jahr 2022 endgültig geschlossen werden. Eigentlich. Denn die aktuelle Energiekrise hat die Debatte um den geplanten Ausstieg Deutschlands aus der Atomkraft neu angefacht. Derzeit laufen hierzulande noch drei Reaktoren: Emsland, Isar 2 und Neckarwestheim 2. Ihre Erlaubnis zur Stromproduktion endet am 31. Dezember 2022. Es wird kontrovers diskutiert, ob die Abschaltung der Meiler verschoben werden sollte.
Die EU-Energieminister haben bei einem Sondertreffen am Dienstag einen sogenannten Gas-Notfallplan beschlossen. Obwohl die Atomkraft in Deutschland keine entscheidende Rolle bei der Wärmeversorgung spielt, dürften die Beschlüsse der Energieminister richtungsgebend für das weitere Vorgehen Deutschlands im Energiemanagement sein.
Union und FDP machen sich dafür stark, im Ausstiegsplan einen Weiterbetrieb der Meiler zumindest über den Jahreswechsel hinaus zu ermöglichen. Doch dürften die Atomkraftwerke überhaupt weiter betrieben werden? Was sind die Voraussetzungen dafür? Und welche Folgen hätte dieser Schritt für die Umwelt? Watson gibt einen Überblick.
Atomkatastrophen wie jene in Tschernobyl 1986 und jene im japanischen Fukushima im Jahr 2011 brachten verheerende Folgen für die Umwelt und Millionen Menschen mit sich, die teilweise bis heute nachwirken. Auch, wenn sich bei rechtskonformem Betrieb die Risiken in Grenzen halten, ist ein Reaktorunfall, etwa bei Katastrophen oder Kriegen, nicht auszuschließen.
Nach der Reaktorkatastrophe in Fukushima und zahlreichen Protesten vonseiten der Bürger weltweit vollzog die damalige schwarz-gelbe Bundesregierung eine Kehrtwende und beschloss den stufenweisen Atomausstieg bis Ende 2022. Stattdessen sollte vermehrt auf erneuerbare Energien gesetzt werden.
Die Energiekrise und die Drosselung russischen Gases bringt Deutschland zunehmend in Bedrängnis. Union und FDP werben dafür, den Ausstiegsplan für die Meiler auszusetzen und einen zumindest begrenzten Weiterbetrieb über den Jahreswechsel hinaus zu ermöglichen. Die Idee dahinter: Die Reaktoren sollten weiterhin Strom erzeugen und damit Gas einsparen, das zur Erzeugung von Elektrizität eingesetzt wird. Auch die Grünen schließen eine Verlängerung nicht mehr pauschal aus.
FDP-Fraktionschef Christian Dürr sieht eine Laufzeitverlängerung auch als eine Frage der europäischen Solidarität. "Nicht nur Deutschland steht vor einer schweren Energiekrise, sondern ganz Europa", sagte Dürr der Deutschen Presse-Agentur.
Auch Finanzminister Christian Lindner rechnet damit, dass Deutschland angesichts der Krise noch für längere Zeit auf Atomenergie zurückgreifen muss. "Es geht nicht um viele Jahre, aber möglicherweise müssen wir uns mit dem Gedanken anfreunden, auch im Jahr 2024 etwa noch Kernenergie zu brauchen", sagte der FDP-Politiker am Dienstag bei RTL/ntv.
Der größte energetische Aufwand bei der Stromerzeugung durch Kernkraft liegt in der Anreicherung des Urans. Je nachdem, woher die Energie stammt, mit der dieser Prozess in Gang gesetzt wird, ist Kernenergie mit Blick auf ihre Emissionskette dabei insgesamt emissionsarm – doch das bedeutet nicht, dass sie auch klimaeffizient ist.
Denn mit einem Weiterbetrieb von Bestandsreaktoren bleiben viele Risiken bestehen, wie Mycle Schneider, Energie- und Atompolitikberater für zivile und politische Organisationen, watson bereits in einem Interview Anfang des Jahres erklärt hatte. Eigentlich müsste jeder Reaktor getrennt betrachtet und darüber geurteilt werden, wie lange der Betrieb rein klimapolitisch Sinn mache.
Wie alt ein solcher Reaktor werden dürfe, sei bisher nicht klar, erklärte Schneider. Er sagt: "Es gibt praktisch keine Erfahrungen mit Reaktoren, die länger als 50 Jahre am Netz hingen. Viele können allerdings schon viel früher nicht mehr mit Effizienz und Erneuerbaren konkurrieren."
Das größte Argument gegen eine Weiterführung der Atomkraftwerke ist jedoch das Problem mit der Endlagerung des Atommülls.
Die Frage, wohin der Atommüll am Ende soll, ist nach wie vor nicht geklärt. Auch, wenn manche Abfälle aus Atomkraftwerken eine relativ kurze Halbwertszeit haben, liegt sie bei anderen – beispielsweise uranhaltigen Abfällen – bei mehreren Zehnmillionen Jahren. Nachhaltig geht anders.
Die radioaktive Strahlung des Atommülls ist stark gesundheitsschädlich: "Schon das Einatmen kleinster Mengen Plutonium kann zu Lungenkrebs führen. Gelangt Strontium-90, ein weiterer Bestandteil des Mülls, in unseren Körper, wird dieser aufgrund seiner Ähnlichkeit zu Calcium in die Knochen und das Knochenmark eingebaut – und kann so zu Knochentumoren und Leukämie führen", fasst der BUND in einem Überblick zusammen.
Zudem besteht die Gefahr, dass der Müll für Terroranschläge genutzt wird, wie der BUND befürchtet:
Bundeswirtschafts- und Bundesumweltministerium verwarfen die Option eines Weiterbetriebs schon im März bei einer Prüfung. Der Grund: Eine Laufzeitverlängerung leiste nur einen "sehr begrenzten Beitrag" zur Problemlösung. Angesichts der sehr angespannten Lage wird die Sache nun jedoch erneut geprüft; das Ergebnis dieses sogenannten zweiten Stresstests zur Stromversorgung soll in den nächsten Wochen vorliegen. SPD und insbesondere Grüne sind nach wie vor skeptisch. Auch sie wollen einen zumindest befristeten Weiterbetrieb im Krisenfall aber inzwischen nicht generell ausschließen.
Es sind nicht nur rein rechtliche und politische Hürden, sondern auch technisch-betriebswirtschaftliche. Wegen des Atomausstiegs sind die drei verbliebenen Meiler bislang auf eine Laufzeit bis Ende des Jahres ausgelegt. Betreiber müssten dafür schnell das erforderliche Personal und genug Kernbrennstoff auftreiben.
Auch die Frage aufwendiger periodischer Sicherheitsprüfungen würde sich im Fall einer Laufzeitverlängerung neu stellen. Betreiber der verbliebenen Atomkraftwerke wie der Energiekonzern RWE äußerten sich zuletzt ablehnend.
Ein weiterer Aspekt: Das Uran in den Kernbrennstäben hält nur eine gewisse Zeit. Laut deutschem Bundesverband der Atomenergiebranche liegt die Nutzungsdauer einer Beladung üblicherweise bei vier Jahren. Die Ersatzbeschaffung braucht einen gewissen Vorlauf, eine Lieferung neuer Brennstäbe wäre demnach erst im nächsten Jahr möglich. Das Wirtschaftsministerium geht ebenfalls davon aus, dass dies mehr als ein Jahr dauern würde.
Eine immer wieder diskutierte – und die wahrscheinlichste – Maßnahme zur Verlängerung der Reaktornutzungsdauer ohne Rückgriff auf neue Brennelemente ist daneben der sogenannte Streckbetrieb.
Beim Streckbetrieb wird der Prozess, bei dem die atomare Kettenreaktion in einem alten Reaktorkern am Ende seiner Lebensdauer mangels unverbrauchten Urans langsam automatisch zum Erliegen kommt, durch Maßnahmen der Anlagensteuerung noch für einige Monate künstlich in die Länge gezogen.
Allerdings verliert der Reaktor dabei laufend 0,5 Prozent seiner Leistung pro Tag.
Mit der Verlängerung der AKW-Laufzeiten verlängert sich auch das Sicherheitsrisiko durch Atomkraftwerke. Genau hier sehen Experten im Hinblick auf den Klimawandel und dadurch immer häufiger auftretende Naturkatastrophen ein gestiegenes Risiko für einen GAU.
Wolfgang Renneberg, ehemaliger Leiter der Abteilung Reaktorsicherheit, Strahlenschutz und Entsorgung im Bundesumweltministerium, bewertete in einem früheren Gespräch mit watson deshalb das Risiko für einen Atomreaktorunfall als gestiegen: "Der Klimawandel erhöht die Wahrscheinlichkeit für Ereignisse, die dazu führen können, dass Kernkraftwerke nicht mehr ausreichend gekühlt werden können", betonte er im Gespräch mit watson. Er ergänzte:
Als weiteres Risiko betrachtete Renneberg auch einen möglichen Wassermangel: "Wenn es in Zukunft vermehrt zu Dürren kommen sollte, könnte auch die Wasserzufuhr zur Kühlung der Reaktoren abnehmen", erklärte er watson. Dass "Wassermangel" inzwischen auch in Europa zum Problem vor allem während der Sommermonate wird, zeigen die aktuellen Dürren in Italien, Spanien, Frankreich und auch mehreren Regionen Deutschlands. Die Waldbrände, die immer wieder weitläufig vor allem in Ostdeutschland – wie aktuell in Sachsen – wüten, stellen ein zusätzliches Risiko für einen AKW-Unfall dar.
(mit Material von dpa)