Während andere aussteigen, steigt Frankreich voll ein ins Atomgeschäft. Derzeit betreibt das europäische Land 56 aktive Reaktoren, weitere sind in Planung. Zu Beginn des russischen Angriffskrieges in der Ukraine musste sich Frankreich daher weniger den Kopf zerbrechen, wie es sich vom russischen Gas losreißt. Anders als etwa Deutschland.
Doch die Energieversorgung allein auf die Karte "Atomenergie" zu setzen, könnte am Ende nach hinten losgehen und zu einem "Engpass" in Frankreich führen.
"Aus der Sicht der europäischen Energiesicherheit ist das Natururan nicht der Engpass, sondern alles andere drumherum: von der Urananreicherung über die Herstellung von Brennelementen bis hin zum Transit von Natururan von Kasachstan nach Europa", sagt Wissenschaftler Yanliang Pan auf watson-Anfrage. Er forscht am James Martin Center for Nonproliferation Studies in Monterey, California.
An dieser Stelle hebt er das geplante Joint Venture zwischen dem staatlich-russischen Atomunternehmen Rosatom und dem französischen Kernkraft-Unternehmen Framatome hervor. Beide wollen eine Atom-Kooperation zur Herstellung von Brennelementen in Lingen, Deutschland, eingehen. Und das, während der russische Angriffskrieg in der Ukraine tobt.
Zum Hintergrund: In Lingen werden seit mehr als vier Jahrzehnten Brennelemente für Atomkraftwerke in Europa hergestellt – nun soll ein russisches Unternehmen mitmischen dürfen.
"Der französische Betreiber Framatome hat im März 2023 in Frankreich mit der Rosatom Filiale TVEL ein Joint Venture mit Namen 'European Hexagonal Fuel SAS' gegründet mit dem Ziel der Herstellung und Vermarktung von Brennelementen für Atomkraftwerke des russischen Designs WWER", sagt der unabhängige, internationale Energie- und Atomkraftanalyst Mycle Schneider auf watson-Anfrage. Er ist Koordinator und Herausgeber des jährlichen "World Nuclear Industry Status Report".
Diese Brennelemente sollen laut ihm in einer Erweiterung der Fabrik in Lingen hergestellt werden. Das Genehmigungsverfahren laufe. Brisant: Rosatom ist ein russischer Staatskonzern, der sowohl für den Bereich Atomkraft als auch für das Atomwaffenprogramm zuständig ist. "Rosatom ist ebenfalls proaktiv an der militärischen Besetzung des ukrainischen Atomkraftwerk Saporischschja beteiligt", betont Schneider.
Er führt aus:
Also zusammengefasst: Die Firma Advanced Nuclear Fuels (ANF) soll in Lingen künftig auch Brennelemente für osteuropäische Atomkraftwerke sowjetischer Bauart herstellen. Ziel: Die Kraftwerke in Osteuropa sollen damit unabhängiger von russischen Lieferungen gemacht werden. Um den russischen Brennelementtyp fertigen zu können, soll der französische ANF-Mutterkonzern Framatome eine Zusammenarbeit mit einer Tochterfirma des russischen Staatsatomkonzerns Rosatom eingehen.
"Ein Skandal", meint ".ausgestrahlt", eine seit 2008 bundesweit tätige Anti-Atom-Organisation. Auf ihrer Website warnt sie, der Einstieg Russlands biete unvermeidlich Möglichkeiten zu Sabotage, Spionage und Desinformation – nicht nur in Lingen und Deutschland, sondern in allen Atomkraftwerken, die von Lingen beliefert werden.
Die deutschen Behörden müssten ihrer Schutzpflicht nachkommen und die Genehmigung für dieses Vorhaben versagen, fordert die Organisation. Die mögliche Kooperation einer russischen Atomenergiefirma mit der Brennelementfabrik in Lingen bereitet offenbar auch dem niedersächsischen Umweltminister Christian Meyer Unwohlsein.
Schließlich ist Rosatom nicht einfach nur ein Konzern. Laut Expertenstimmen ist das Unternehmen einem Ministerium gleichgestellt und direkt Präsident Wladimir Putin unterstellt.
"Ich bin in der Tat sehr erschrocken darüber, dass das Ganze in enger Kooperation mit russischen Atomkonzernen, die sehr eng mit Putin verbunden sind, passieren soll", sagt der Grünen-Politiker gegenüber der "Neuen Osnabrücker Zeitung". Auch er sorgt sich um die Sicherheit, wenn Mitarbeitende russischer Atomkonzerne Zugang zur Brennelementfabrik erhalten sollten: Das alles habe erhebliche Auswirkungen auf die innere und äußere Sicherheit.
Wer auf Atomenergie setzt, kann an dieser Stelle nicht verdrängen: Russland spielt nach wie vor eine zentrale Rolle im globalen Nuklearsektor, selbst nach dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg in der Ukraine. Davor warnt etwa das "Finnish Institute of International Affairs" (FIIA) in einem Bericht vom Oktober 2023.
Darin heißt es, der westliche Kernenergiesektor sei weiterhin auf Lieferungen und Dienstleistungen aus Kasachstan und Russland angewiesen. "Nur wenige Staaten haben die Kapazität, angereichertes Uran zu produzieren, und Russland verfügt über fast die Hälfte der weltweiten Anreicherungskapazitäten."
Demnach liefere das russische Unternehmen Rosatom noch Kernbrennstoff an Reaktoren sowjetischer und russischer Bauart in Europa. Westliche Unternehmen sollen demnach Brennstoff entwickelt haben, mit denen man die Lieferungen von Rosatom ersetzen könne.
Seit Anfang 2023 unterstützt die EU etwa das "Accelerated Program for Implementation of Secure VVER Fuel Supply" (APIS), also ein Programm zur Umsetzung einer sicheren WWER-Brennstoffversorgung. Ziel sei es, eine vollständig europäische Brennstoffversorgung für WWER-Reaktoren russischer Bauart auf die Beine zu stellen.
Die geplante Atom-Kooperation mit dem russischen Unternehmen Rosatom auf deutschem Boden in Lingen zeigt erneut: Russland ist ein wichtiger Akteur in allen Bereichen des Nuklearsektors, vom Uranabbau über die Anreicherung bis hin zur Aufbereitung abgebrannter Brennstoffe.
"Geschäfte mit Putin sollten beendet werden, das gilt auch und gerade für den Atombereich. Dies durch Joint Ventures, direkte oder indirekte Beteiligungen Russlands zu verfestigen, halte ich politisch angesichts Putins brutalem Energiekrieg gegen Europa für fatal", betonte Meyer Anfang des Jahres gegenüber dem Sender NDR.