"Wer wird deutscher Meister? BVB Borussia!", sangen die tausenden BVB-Fans im Berliner Olympiastadion am Samstagabend. Beinah das halbe Rund hatten sie in Schwarz-Gelb getaucht. Sie alle träumten nach dem 3:2-Last-Minute-Sieg gegen Hertha weiter von der Meisterschaft – und erklärten einen Ersatzspieler zum "Man of the Match". Was sich abstrus anhört, ist eine sehr feinfühlige Analyse.
Während im Stadion die BVB-Anhänger das ganze Team bejubelten, feierten die BVB-Fans in den sozialen Netzwerken vor allem neben dem Siegtorschützen Marco Reus ausgerechnet Marcel Schmelzer. "Reus, King of Dortmund. Schmelzer, Prince of Dortmund", schrieb beispielsweise eine Twitter-Userin. Eine andere Anhängerin erklärte nur: "Schmelzer Ehrenmann".
Das größte BVB-Fanzine "schwatzgelb.de" kürte ihn kurzerhand zum "Man of the Match". Dabei saß Schmelzer nur auf der Bank und spielte keine einzige Minute in Berlin.
Der BVB hatte gerade durch Reus das verdiente 3:2 in der Nachspielzeit geschossen. Nur noch zwei Minuten waren zu spielen und der BVB erhielt einen Freistoß in der eigenen Hälfte. Der eingewechselte Berliner Vedad Ibisevic bewarf kurz vor Ausführung den BVB-Keeper Roman Bürki mit einem anderen Ball und traf ihm am Kopf. Und dann kam Schmelzer.
Der Dortmunder sprintete von der Ersatzbank auf den Platz, um seinen Keeper wie eine Löwenmutter zu beschützen. Schiedsrichter Tobias Welz hatte die Aktion nicht mitbekommen, nahm den Videobeweis zur Hilfe, zeigte Ibisevic Rot und Schmelzer eine berechtigte Gelbe Karte. Der 31-Jährige grinste daraufhin verschmitzt. Und die BVB-Fans feierten ihn – völlig zu Recht.
Der Linksverteidiger und Ex-Kapitän stand in dieser Saison erst in elf Spielen auf dem Platz. Er spielt sportlich eigentlich gar keine Rolle mehr unter Trainer Lucien Favre. Statt auf Schmelle setzt der Trainer auf der linken Außenverteidiger-Position lieber auf den gelernten Innenverteidiger Abdou Diallo oder den zuletzt fehleranfälligen Jungspund Achraf Hakimi.
Auch bei den Fans hat Schmelzer einen schweren Stand – obwohl der 31-Jährige der dienstälteste Profi beim BVB ist und seit 2008 alle Höhen und Tiefen mit dem Verein erlebt hat. Während die einen BVB-Anhänger auf eben diese Treue und Historie verweisen, würde die andere Hälfte innerhalb der Fanszene den gebürtigen Magdeburger am liebsten gleich vom Hof jagen. Sie haben eher seine Fehler im Kopf, statt seiner über Jahre soliden aber unauffällige Art des Verteidigens – die den BVB durch seine Mithilfe immerhin zu zwei Meisterschaften, zwei Pokalsiegen und bis in das Champions-League-Finale verhalfen.
Und Schmelzer? Der hat sich bis dato noch nicht wirklich zu seiner Zukunft geäußert, doch macht derzeit das Beste aus seiner Situation. Er lamentiert nicht, kritisiert seine Situation nicht öffentlich und arbeitet mit am Meistertraum seines Lieblingsvereins. Im Hintergrund gibt er den jungen Spielern Tipps, immer wieder sieht man ihn vor den Partien oder in der Halbzeit mit seinen Mitspielern reden, diskutieren oder sie motivieren. So ein Spieler war besonders in Berlin sehr wichtig.
Bis zum Last-Minute-Kraftakt am gestrigen Abend war Hertha der Angstgegner des BVB. Seit 2014 konnte der die Borussia nicht mehr in der Liga bei Hertha gewinnen und holte nur einen Sieg aus den letzten sechs Spielen. Dazu fehlten ausgerechnet in Berlin eine wichtige Erfolgs-Achse: Der BVB lief ohne den verletzten Leitwolf Axel Witsel auf, dazu fehlte die Sturmreihe mit dem derzeit aufblühenden Mario Götze und dem zuletzt wieder treffsicheren Paco Alcácer.
In der Mannschaft des BVB, die zumindest in Berlin mit Kapitän Reus nur einen etablierten Leader im Team dabei hatte, kein leichtes Unterfangen. Und da war eben jener Schmelzer, der sich mit seinem regelwidrigen Sprint aufs Feld vor sein Team stellt. Die noch so junge und zuletzt verunsicherte Mannschaft braucht im Kopf-an-Kopf-Rennen mit dem FC Bayern solche stillen Teamplayer mit Erfahrung. Und Schmelzer scheint sich still und heimlich in der zweiten Reihe zu so einem zu entwickeln. Für den Traum, den sie alle haben: die deutsche Meisterschaft.