Es war eine Szene in der Partie des BVB gegen Hoffenheim am 22. Spieltag, die gleichermaßen kurios wie symptomatisch für Borussia Dortmund und Julian Brandt in dieser Rückrunde ist. In der 43. Spielminute schlägt Marco Reus einen Freistoß scharf vor das Tor, Brandt versucht sich wegzuducken – und bugsiert den Ball dadurch unhaltbar mit dem Rücken zum 1:0-Siegtreffer ins Tor. Auf einmal schien alles zu klappen.
Der 26-Jährige ist seit dem Bundesliga-Restart die herausragende Person bei den Dortmundern. In den acht Partien stand er jedes Mal in der Startelf, steuerte vier Treffer und zwei Vorlagen bei. Vor allem aber bereicherte er das streckenweise zu statische Offensivspiel der Schwarz-Gelben mit Spielwitz und Kreativität.
In der Champions-League-Partie gegen den FC Chelsea ereignete sich dann allerdings ein Schockmoment für den BVB. Bereits nach fünf Minuten musste Brandt ausgewechselt werden. Diagnose: Muskelfaserriss. Der Offensivspieler wird wochenlang fehlen.
Nach zehn Siegen in Folge mussten die Dortmunder gegen die Blues nun die erste Niederlage einstecken und schieden gleichzeitig aus der europäischen Königsklasse aus. Am Samstag trifft das Team von Trainer Edin Terzić im 100. Revierderby auf den Erzrivalen Schalke 04. Die nächsten Spiele werden über Wohl und Wehe der Dortmunder entscheiden – wobei der BVB vorerst auf das Rückgrat der Offensive verzichten muss.
Vor dem prestigeträchtigen Aufeinandertreffen gegen Schalke drohen dem BVB nun aber die Offensiv-Optionen auszugehen. Neben Brandt fällt auch Karim Adeyemi weiterhin mit einem Muskelfaserriss aus, Marco Reus war in den letzten Tagen stark erkältet. Ein Einsatz des BVB-Kapitäns ist demnach fraglich. Auf die Frage, wie er die Ausfälle kompensieren wolle, antwortete Edin Terzić in der Pressekonferenz vor dem Spiel lediglich: "Mit den anderen Jungs, die wir im Kader haben."
Schalke auf der anderen Seite ist aktuell in Form. Zwar belegen die Königsblauen immer noch den 17. Tabellenplatz, in der Rückrunde sind sie allerdings bislang ungeschlagen, haben nur ein Gegentor kassiert und die letzten beiden Spiele sogar gewonnen.
Wie schwierig sich der BVB mit einer kompakt stehenden Defensive tut, war in der Vergangenheit bereits häufiger und zuletzt wieder gegen den FC Chelsea zu sehen. Nachdem Julian Brandt verletzt ausgewechselt wurde, mangelte es an Kreativität und Geniestreichen. Dortmund war geradezu ideenlos.
Das Revierderby könnte demnach trotz eklatanter tabellarischer Unterschiede eine Partie auf Augenhöhe werden. Die Ausgangslagen könnten auf beiden Seiten nicht unterschiedlicher sein. Borussia Dortmund will weiter um die lang ersehnte deutsche Meisterschaft mitspielen und nach der Niederlage in der Champions League eine Reaktion zeigen. In Gelsenkirchen kämpft man im Abstiegskampf um den Klassenerhalt.
Außerdem sei das Derby an sich schon Motivation genug, findet Edin Terzić: "Wenn ein Fußballspiel einen eigenen Namen bekommt, dann weiß man um die Bedeutung des Spiels."
Dass ausgerechnet Julian Brandt noch einmal zum überzeugenden Leistungsträger der Borussen avanciert, hätten vermutlich die wenigsten vermutet. 2019 wechselte der gebürtige Bremer für 25 Millionen Euro von Bayer Leverkusen zu Borussia Dortmund, spielt mittlerweile seine vierte Saison im Ruhrgebiet. Bis zuletzt konnte sich Brandt dort allerdings nie richtig etablieren.
Einen maßgeblichen Anteil an seinem Wechsel hatte damals auch BVB-Kapitän Marco Reus. Reus kannte Brandt bereits aus der Nationalmannschaft und überzeugte ihn dort, sich den Schwarz-Gelben anzuschließen.
Unter dem damaligen Cheftrainer Lucien Favre wurde Brandt zunächst auf dem Flügel eingesetzt, spielte anschließend neben dem defensiveren Axel Witsel auf der Achter-Position und nach dem Ausfall von Marco Reus schließlich auch auf der Zehn im offensiven Mittelfeld. Gleich in seiner ersten Saison kam er wettbewerbsübergreifend auf immerhin 20 Scorerpunkte. Von dort an fiel sein Leistungsniveau jedoch rasant ab.
In den darauffolgenden Spielzeiten geriet der 26-Jährige zunehmend in die Kritik. In der Defensive war sein Verhalten häufig nur halbherzig. Offensiv wurden ihm mangelnder Körpereinsatz, ein schwaches Durchsetzungsvermögen und zu einfache Ballverluste attestiert. Zudem litt er darunter, beim BVB nie seine feste Position gefunden zu haben.
Dabei galt er einst als einer der besten deutscher Spieler seiner Generation. 2014 gewann er die Fritz-Walter-Medaille in Gold als bester U-18-Nachwuchsspieler, im Vorjahr bereits die silberne Auszeichnung für die U-17-Spieler.
Nachdem er beim VfL Wolfsburg das Nachwuchsleistungszentrum durchlaufen hatte, schloss sich Brandt 2014 Bayer Leverkusen an, wo er seinen ersten Bundesliga-Einsatz feiern konnte und später auch erstmalig in die Nationalmannschaft berufen wurde.
Bei der Werkself begann auch eine enge Freundschaft zu seinem damaligen Mannschaftskollegen Kai Havertz, der lange Zeit als der talentiertere der beiden galt. In Leverkusen reifte Havertz zu einem der gefragtesten Talente im europäischen Fußball, wechselte 2020 für 80 Millionen Euro zum FC Chelsea. Kein anderer deutscher Fußballspieler kostete seinen neuen Klub mehr Geld. Dort gewann er in seiner ersten Saison die Champions League und erzielte im Finale sogar den Siegtreffer.
In der aktuellen Saison schien Brandt die Nase gegenüber Havertz leistungstechnisch vorn zu haben. Bis beide im Champions-League-Achtelfinale wieder aufeinandertrafen. Brandt verletzte sich, Havertz traf zum 2:0-Endstand und steht nun mit seinem Team im Viertelfinale. Der BVB ist ausgeschieden.
Ein Brandt-Einsatz gegen Schalke ist ausgeschlossen, auch gegen Köln wird er noch fehlen. Danach folgt eine Länderspielpause und darauf das Topspiel gegen den FC Bayern. Es sind die Wochen, die darüber entscheiden, wie Borussia Dortmund die Saison abschließen wird. Zudem wollte sich Brandt in der Nationalmannschaft wieder bei Bundestrainer Hansi Flick ins Gespräch bringen.
Bereits in der Hinrunde machte Julian Brandt mit seinen Leistungen auf sich aufmerksam. Plötzlich wartete er genau mit den Qualitäten auf, die ihm in der Vergangenheit so häufig in Abrede gestellt wurden. Er brachte eine Körperlichkeit mit, arbeitete resolut im Gegenpressing mit und überzeugte mit seiner Entscheidungsschnelligkeit.
Hinzu kam, dass Edin Terzić zur Rückrunde das Dortmunder System umstellte, indem er Emre Can fest neben Salih Özcan ins defensive Mittelfeld gezogen hatte, um vor allem Jude Bellingham zu entlasten. Aber auch die Offensive rund um Julian Brandt profitierte von der hinzugekommenen defensiven Stabilität und zeigt seitdem, regelmäßig, wozu sie imstande ist.