Als der DFB am 31. August um Punkt 11 Uhr seinen Kader für die Länderspiele gegen Japan und Frankreich bekannt gab, dürften viele Fans und Experten nicht schlecht gestaunt haben. Einerseits, weil der Name Leon Goretzka im 24 Spieler umfassenden Aufgebot fehlte. Andererseits aber auch, weil stattdessen Pascal Groß mit dabei war.
"Die Nominierung war auch für mich überraschend", gestand der DFB-Neuling bei seiner ersten Pressekonferenz im Kreise der A-Nationalmannschaft. Immerhin kommt es nicht alle Tage vor, dass ein Profi im Alter von 32 Jahren zum ersten Mal nominiert wird. Gegen Japan debütierte er direkt, kam in der 64. Minute für Emre Can in die Partie. Damit ist er der zehntälteste DFB-Debütant, der älteste seit Roman Weidenfeller vor zehn Jahren.
Es dürfte zugleich einer der undankbarsten Einstände der letzten Jahre gewesen sein. Die Nationalmannschaft ging schließlich mit 1:4 unter, einen Tag später musste Hansi Flick gehen. Die Entscheidung, die bei vielen Fans und Experten für Wohlwollen sorgte, dürfte bei Groß eher gegenteilige Emotionen hervorgerufen haben.
Schon vor der Partie gegen Japan hatte Sportdirektor Rudi Völler gegenüber der "Sport Bild" das Ende der Experimente bestätigt: "Es geht darum, dass sich die Mannschaft findet und einspielt." Das Problem: Der Brighton-Profi fällt in die Kategorie Experimente.
Das soll ganz explizit kein Affront gegen ihn sein, dafür bringt er zu viele Qualitäten mit. Groß agiert mannschaftsdienlich, ist passstark und flexibel einsetzbar. Obendrein serviert er gute Standards. All das sind Elemente, die dem deutschen Spiel guttun würden.
Es drängt sich allerdings schnell die Frage auf, wo genau auf dem Platz der 32-Jährige seine Fähigkeiten einbringen darf. Für Brighton hat er bereits alle Positionen im Mittelfeld bekleidet, die Außenbahnen inklusive. Selbst als Rechtsaußen sowie als Links- und Rechtsverteidiger ist er schon zum Einsatz gekommen.
"Im Mittelfeld fühle ich mich sehr wohl, aber je nach Spielsystem auch rechts hinten", erklärte er zuletzt auf einer DFB-PK, äußerte dabei aber auch seine persönliche Präferenz: "Ich würde sagen, dass die Acht meine beste Position ist."
Im zentralen Mittelfeld kam er am Samstag schließlich auch zum Einsatz, allerdings als Sechser. Dort fehlten mit Goretzka und Joshua Kimmich, der als Rechtsverteidiger agierte, zwei prominente Optionen. Durch die Entlassung Flicks dürfte dies nur eine Momentaufnahme sein. Der als Nachfolger gehandelte Julian Nagelsmann etwa setzte als Trainer des FC Bayern stets auf die Doppelsechs Kimmich/Goretzka.
Dahinter würden in dieser Konstellation unter anderem Can und Neu-Kapitän İlkay Gündoğan lauern. Für Groß dürfte da kein Platz mehr bleiben, zumal offensiv denkende Allrounder wie Jamal Musiala oder Julian Brandt für die Position ebenfalls infrage kommen.
Groß kann allerdings nicht nur in der Mittelfeldzentrale agieren, sondern auch als Rechtsverteidiger. Der Fanliebling, in Brighton sogar schon mit einem eigenen Song bedacht, interpretiert diese Rolle aber nicht im klassischen Sinne.
13 Mal startete er auf der Insel als Außenverteidiger und wusste dort zu überzeugen. Brian Owen, der als Journalist vom englischen Medium "The Argus" Brighton begleitet, gibt ein paar Einblicke, wie Groß seine Rolle in der Viererkette interpretiert hat.
"Wenn möglich, hat er sich ins Zentrum geschoben, um dort eine Überzahl zu kreieren. Herausragend war er vor allem im Zusammenspiel mit dem Mittelfeld", berichtet Owen gegenüber watson. Defensiv sei Groß zwar "nicht die allergrößte Absicherung, als intelligenter Spieler weiß er aber, wie er sich zu positionieren hat". Am notwendigen Einsatz mangle es sowieso nie.
Owen kann sich vorstellen, dass dies auch im Nationalteam funktioniert: "Er spielt es natürlich anders als Manfred Kaltz früher. Aber wenn man viel auf Ballbesitz setzt, kann das klappen. Er ist eben sehr gut am Ball, nur nicht allzu schnell."
Unter dem Strich klingt das durchaus vielversprechend, es bedarf aber eines Systems mit einem invers agierenden Rechtsverteidiger. Genau darauf setzte Flick bei seinem allerletzten Experiment. So rückte Kimmich in Ballbesitz stets ins Mittelfeldzentrum. Der als Linksverteidiger aufgebotene Nico Schlotterbeck bildete indes mit den beiden Innenverteidigern eine Dreierkette.
Gegen Japan funktionierte dieser Ansatz aus mehreren Gründen nicht. Schlotterbeck wirkte als Linksverteidiger anfällig, die Abstimmung im Zentrum passte nicht. Die Idee fordert gewisse Abläufe und damit eben auch Zeit, um diese einzustudieren. Zeit aber ist neun Monate vor dem Start der Heim-EM Mangelware. Folglich erscheint eine Fortsetzung dieses Experiments unwahrscheinlich.
Auf der Acht oder als inverser Außenverteidiger – für Groß hätte diese Länderspielpause eine große Chance sein können, beim Bundestrainer und in der deutschen Öffentlichkeit nachhaltig Eindruck zu hinterlassen. Stattdessen deuten die Zeichen nun darauf hin, dass seine Nominierung eine einmalige Stippvisite war.
Sollte es tatsächlich so kommen, dürfte der 32-Jährige aber wohl kaum nachtragend sein. Jede:r Fußballer:in träumt davon, für das Heimatland auflaufen zu dürfen. Groß hat das geschafft, als es ihm die wenigsten noch zugetraut haben. "Ich bin ein positiver Mensch und versuche, meine positive Energie in die Mannschaft zu bringen", sagt der Routinier selbst. Und wenn er das nicht beim DFB-Team darf, führt er eben Brighton von einem Erfolg zum nächsten.