Die Chefetage des FC Bayern steht spätestens seit dem eiligen Rauswurf ihres Trainers Julian Nagelsmann im Abseits. Die Abläufe des Trainerwechsels waren aus Sicht der meisten Bayernfans überflüssig und in der Bewertung vieler Experten mindestens unanständig. Oliver Kahn und Hasan Salihamidžić haben den Klub ins moralische Abseits gestellt und ernten nach dem Aus im DFB-Pokal vor heimischer Kulisse gegen den SC Freiburg so viel Hohn und Spott wie selten zuvor.
In den nächsten Bundesligaspielen wartet Fußballdeutschland auf Erfolge der jeweiligen Gegner des FC Bayern. Und in den sozialen Medien werden sich diejenigen Influencer einen Namen machen, die ihre Schadenfreude gegen den großen FC Bayern kreativ und schlagfertig auf den Punkt bringen können
Aus dem selbstbewussten Motto der Hoeneß-Rummenigge-Ära "Mia san mia" ist nach dem Abpfiff des Viertelfinals im DFB-Pokals gegen den SC Freiburg ein "Mia san raus" geworden. Die Freude über dieses Ausscheiden ist vor allem bei den Fußballfans groß, die von einem wertebasierten Fußball träumen. Deshalb hat sich der FC Bayern die jetzt aufkommende Schadenfreude redlich verdient und damit den Druck für die Mannschaft unnötig erhöht.
Die Führungscrew des FC Bayern hat ihre Glaubwürdigkeit aufs Spiel gesetzt: Die Verantwortlichen haben es nicht geschafft, den Trainer, mit dem sie gemeinsam ein ganz neues Kapitel im professionellen Fußball aufschlagen wollten, exklusiv über seinen Rauswurf zu informieren. Das vermeintlich größte Trainertalent Deutschlands musste sein Ende bei den Bayern über die Medien erfahren.
Dass man den Ex-Trainer auf die Schnelle telefonisch nicht erreichen konnte, ist zwar eine plausible Ausrede, zeugt aber von einem Wertedefizit. Es mangelt offensichtlich an Respekt und Anstand. Darüber hinaus aber auch an Herzlichkeit, Dankbarkeit, Solidarität und Verantwortungsgefühl.
Rekordnationalspieler Lothar Matthäus hatte bereits am vergangenen Samstag deutliche Worte für diese bedenkliche Entwicklung gefunden: "Das Mia san mia wird teilweise mit Füßen getreten", sagte er. Damit hat er Wirkung erzielt und sich öffentlich tagelang mit dem neuen Bayern Boss Oliver Kahn gestritten. Dieser hätte sich meiner Meinung nach wenigstens für das moralische Fehlverhalten gegenüber dem Ex-Trainer entschuldigen sollen.
Stattdessen probiert er es mit Ausreden und bedauert, dass die Information zur Trainerentlassung geleakt wurde.
Für Kahn ist der Vorwurf auf der moralisch ideellen Schiene besonders schmerzlich, denn er hatte unmittelbar vor seiner Machtübernahme bei den Bayern eine sehr ambitionierte Wertedebatte im Verein angestoßen.
Im September 2020 kündigte der Verein unter dem vollmundigen Titel "FC Bayern AHEAD" den Start einer Leitbildentwicklung an, zu der Kahn damals folgendes zu Protokoll gab: "Mit dem Strategieprojekt 'FC Bayern AHEAD' sollen die Stärken des FC Bayern ausgebaut und ganz gezielt Verbesserungspotenziale ausgeschöpft werden. Wir brauchen eine ganzheitliche Klubstrategie, die Komplexität reduziert und Orientierung gibt."
Die Ergebnisse können nach wie vor in einer aufwändig gestalteten Inszenierung auf der Bayern-Homepage bestaunt werden. Da steckt wirklich vieles drin. Tolle Fotos, eindrückliche Statements, allerlei Wertvorstellungen und überaus wohlklingende Zielformulierungen und Versprechungen.
In der Summe allerdings weitaus weniger als das, was ehemalige Bayern-Spieler unter dem sehr volkstümlich-eigenwilligen Slogan "Mia san mia" einst verstanden haben und heute so schmerzlich vermissen.
Auch Bastian Schweinsteiger äußerte sich inzwischen unmissverständlich kritisch: "Ja, das "Mia san mia" ist ein bisschen abhandengekommen – im Vergleich zu vor zehn Jahren oder vor anderen Zeiten. Das hängt auch immer ein bisschen mit den Charakteren zusammen, die arbeiten, und der Spielergeneration, das kommt auch dazu."
Oliver Kahn sollte die aktuelle Bayernkrise nutzen und das mit der Leitbild-Debatte nochmal auf die Tagesordnung rufen. Auch wenn das vor drei Jahren angestoßene Projekt "FC Bayern AHEAD" ambitioniert war. Es steht im Schatten des provinziell anmutenden, aber durch und durch herzlich selbstbewussten "Mia san mia".