Der Sportjournalismus berichtet gerne in Superlativen, weshalb die Schlagzeile zu Annett Kaufmann im Sommer schnell gefunden war: "Die neue Timo Boll."
Durchatmen, Leute! Annett Kaufmann ist 18 Jahre jung, sie ist eine Sensation am Schläger, aber Timo Boll? Für all die jungen watson-Leser:innen sei erklärt: Boll ist der erfolgreichste Tischtennis-Spieler der deutschen Geschichte, er spielte siebenmal bei Olympia und schaffte das schier Unmögliche: Er war die Nummer 1 der Weltrangliste.
Und Kaufmann? Die ist die Ruhe selbst. Freundlich, unkompliziert, bewundernswert, klar im Kopf. Den Interviewtermin mit watson bespricht sie per Whatsapp, fürs Telefonat nimmt sie sich Zeit. Und als es vorbei ist, bedankt sie sich fürs Interesse und sagt: "Das hat Spaß gemacht."
Dabei ist der Rummel um sie riesengroß, seit sie bei den Olympischen Spielen die deutsche Mannschaft als Nummer 1 der Setzliste ins Halbfinale führte, obwohl sie vor Turnierbeginn nur als Ersatzspielerin eingeplant war.
Watson sprach mit Annett Kaufmann vor der jetzt startenden Europameisterschaft über ihre steile Karriere, ihre Ziele, ihre Finanzen, ein schönes Leben ohne Medaillen und Bikini-Fotos auf Instagram.
watson: Annett, wie fühlt man sich, wenn man von der Öffentlichkeit als neues Wunderkind gefeiert wird?
Annett Kaufmann: Ach, viel zu verarbeiten gab es für mich nach den Olympischen Spielen ehrlicherweise nicht. Irgendwie fühlt sich momentan alles ganz normal an.
Warum denn das?
Ich glaube, ich brauche einfach ein wenig Zeit. So ging es mir damals auch, als ich mit 15 Jahren die U21-Europameisterschaft gewonnen habe. Heute verstehe ich, was für ein schöner Erfolg das war, aber damals habe ich einfach weitergemacht. Und nach den Olympischen Spielen wollte ich nur in den Urlaub, weil es schon eine intensive Etappe war mit dem Abi und Olympia.
Und nach dem Urlaub explodierte dein Postfach?
Es sind schon mehr E-Mails geworden, ja. Management-Anfragen, Sponsoring, Medien. Aber darüber beschwere ich mich nicht. Wenn ich mir überlege, was jemand im Medizinstudium alles auf dem Zettel haben muss, da habe ich im Vergleich echt einen entspannten Job. Und vor allem: Ich darf machen, was ich liebe. Trotzdem muss ich zugeben, dass ich ein wenig unterschätzt habe, wie viel Arbeit das ist.
Was konkret?
Die ganze Kommunikation, die dranhängt. Man denkt sich immer: "Ach, das kann nicht so viel sein, man muss ja nur eine E-Mail beantworten." Aber auch dafür muss ich erst mal die Zeit finden, das ist gar nicht immer so einfach. Das pendelt sich aber ein. Ich werde im ersten Jahr als Profi bestimmt viel lernen.
Kannst du denn vom Tischtennis leben?
Ich sage mal: ja. Ich lebe auch noch zu Hause, aber mit dem Gehalt vom Verein und den Sponsoren geht das. Zur Wahrheit gehört: Die Kluft zwischen Männern und Frauen ist auch im Tischtennis groß. Aktuell würde ich sagen, dass ich über die Runden komme. Allerdings lebe ich auch nicht wie ein Tennis-Star. (Lacht.) Ob das Leben als Profi etwas für mich ist, muss ich noch herausfinden.
Was könnte schiefgehen?
Ich will sehen, wie es sportlich läuft, aber auch mental. Ich habe für den Moment zum Beispiel entschieden, nicht zu studieren. Vielleicht sage ich auch in einem Jahr, dass das so nicht geht. Dann würde ich Kriminologie oder Kriminalistik studieren. Aber jetzt möchte ich mich zum ersten Mal im Leben nur aufs Tischtennisspielen konzentrieren. Ich bin ja erst 18, ich habe die Zeit, das mal zu testen.
Wie abhängig bist du von Sponsoren, damit das klappt?
Ich habe viel Glück mit meinem Team und meinen Sponsoren. Aktuell sieht es so aus, als würden sie mich langfristig unterstützen. Aber seien wir ehrlich: Man hat auch nicht alles selbst in der Hand, manche Faktoren kannst du nicht planen. Und im Individualsport ist es, gerade in einer Randsportart, nicht so easy, die ganz großen Sponsoren zu finden.
Erfolge helfen dabei sicherlich. Hast du einen Traum, was du einmal gewinnen willst?
Die Antwort ist vermutlich nicht so überraschend: Natürlich würde auch ich gerne eine Medaille bei Olympia, einer WM oder EM gewinnen. Es wäre auch komisch, wenn ich diese Ambitionen nicht hätte. Aber gleichzeitig will ich mich nicht verrückt machen. Ich werde auch ein schönes Leben haben, wenn das nicht klappt. Die Ziele gibt es aber.
Du wirkst ziemlich abgeklärt und ausgeglichen. Oder täuscht das?
Das stimmt schon, weil ich einfach sehr dankbar bin, dass ich das machen darf, was ich mache. Deshalb will ich mich nicht mit Druck selbst fertigmachen. Ich nehme es, wie es kommt. Und freue mich sehr auf das nächste Jahr.
Wie viele Stunden pro Woche stehst du für deinen Traum in der Halle?
Es ist schwer, einen Durchschnitt auszurechnen, aber ich trainiere Montag bis Freitag in der Regel täglich zweimal für je zwei, zweieinhalb Stunden, einmal Samstag und am Sonntag ist dann oft ein Spiel oder Turnier. Da kommt schon was zusammen.
Klassische Angestellte machen zum Ausgleich abends Sport. Wie schaltest du denn ab?
Ach, das kann schon auch Sport sein. (Lacht.) Ich gehe gerne mal im Freibad Beachvolleyball spielen oder mit Freund:innen kicken. Ansonsten verbringe ich einfach sehr, sehr gerne Zeit mit meiner Familie oder koche mit meiner besten Freundin was und wir schauen eine Serie. Aber keine Sorge, ab und zu brauche auch ich mal meine Ruhe, will einfach nur im Bett gammeln oder mit Musik auf den Ohren alleine spazieren gehen.
Oder du kümmerst dich um deinen Instagram-Account. Welche Rolle spielt Social Media für dich?
Ich freue mich über alle Follower:innen, habe aber keine Strategie, sondern mache das selbst und nach Bauchgefühl. Wichtig ist mir nur eine Grenze zum Privatleben.
Und wo hast du die gezogen?
Ich hatte da zum Glück sehr guten Input von meinen Eltern. Und ich weiß: Was einmal im Internet steht, geht nicht mehr weg. Es spielt für mich als Sportlerin einfach auf Instagram keine Rolle, ob ich einen Freund habe oder nicht. Und ich muss mich nicht im Bikini zeigen. Jede:r soll tun, was man möchte, ich habe mich für diesen Weg entschieden. Ich bin kein Hollywood-Star, aber ich finde es schon vernünftig, Beruf und Privatleben online zu trennen.
Trotzdem postest du ja auch private Fotos.
Ja, auch das war eine bewusste Entscheidung. Ich möchte, dass die Menschen auch die Frau hinter der Sportlerin kennenlernen, aber eben in Maßen. Am Ende will ich mich als ambitionierte Tischtennisspielerin zeigen und freue mich sehr, da junge Menschen zu erreichen. Kein 15-Jähriger liest eine Zeitung, aber vielleicht findet er mich auf Insta.
Und für Sponsoren ist Social Media natürlich auch nicht unattraktiv.
So ist es. Gerade für mich als Randsportlerin sind da Dinge möglich. Ich spiele das Social-Game wirklich gern und jetzt auch konsequenter. Vor dem Abi haben mir ein paar Leute geschrieben und gefragt, ob der Account noch aktiv ist. Da hatte ich so viel zu tun, dass ich es einfach vergessen habe. (Lacht.)