2021 scheint für Reality- und Castingshows in Deutschland ein relativ schwieriges Jahr zu sein: "DSDS" und "Das Supertalent" formieren sich mit der jeweils nächsten Staffel komplett neu, während "Promis unter Palmen" nach einem Homophobie-Skandal um Marcus Prinz von Anhalt und schließlich dem überraschenden Tod Willi Herrens von Sat.1 abgesetzt wurde.
Die Privatsender wollen bestimmte Grenzüberschreitungen künftig offenbar effektiver vermeiden, bewegen sich allerdings auf einem schmalen Grat – zumindest dem Klischee nach werden solche Sendungen schließlich gerade wegen der Aussicht auf Eskalation geschaut. Die vergangene Ausgabe von "Die Bachelorette" zum Beispiel fiel allerdings aus dem Rahmen, denn beim Kampf um das Herz von Melissa Damilia gingen die Bewerber auffallend respektvoll miteinander um. Ob dies auch bei der neuen Staffel mit Maxime Herbord der Fall sein wird, wird sich zeigen.
Die Verantwortlichen der Privatsender preschen jedenfalls munter voran. Kurz nach dem Aus von "Promis unter Palmen" kündigte Sat. 1 "Die härteste Realityshow der Welt – Das große Promi-Büßen" an, wobei abzuwarten bleibt, ob der Titel wirklich Programm sein wird. RTL schickt derweil "Unbreakable" neu ins Rennen und hält an all seinen bewährten Reality-Shows fest, wie "DWDL" resümiert.
Zu den Krawall-Formaten, die sich im Fernsehen behaupten können, zählt etwa auch "Kampf der Realitystars" bei RTL2. Bereits Tage vor dem Start der zweiten Staffel in dieser Woche wurde bekannt, dass mehrere Teilnehmer im Zuge der Drehs ärztlich versorgt werden mussten, nun fragen sich die Zuschauer, wie heftig es am Set wirklich zuging. Moderatorin Cathy Hummels betonte, Mobbing habe in der Sendung keinen Platz, allerdings geraten Gina-Lisa Lohfink und Frédéric Prinz von Anhalt schon in der ersten Folge mächtig aneinander.
Auf Anfrage von watson äußerten sich nun die Influencer Anredo und Ramón Wagner zur Zukunft des Trash-TVs. Beide sind Experten auf dem Gebiet und teilen ihren Social-Media-Followern regelmäßig ihre Einschätzungen zu verschiedenen Shows mit.
Für Anredo war die zweite Staffel von "Promis unter Palmen" ein absoluter Tiefpunkt des Reality-TVs. Sein drastisches Fazit lautet: "Das katastrophale Ende wird hoffentlich auf ewig vielen Fernsehmacherinnen und Fernsehmachern als Worst Case einer eskalierten Reality-Produktion im Gedächtnis bleiben. Dieses plumpe Skandal-Konzept war zum Scheitern verurteilt."
Als entscheidenden Grund für die Absetzung vermutet er allerdings gerade nicht die zunächst unzensiert ausgestrahlten Beschimpfungen von Prinz Marcus, gleichwohl viele Zuschauer bereits nach diesen Szenen das Ende der Show gefordert hatten. Anredo führt mit Blick auf die Konsequenzen aus:
Jedoch hält der Influencer es dennoch für möglich, dass Formate eingestampft werden, "wenn sie beim Sender nicht auf die erhoffte Resonanz der Zuschauerinnen und Zuschauer stoßen oder nicht mehr der Haltung oder dem inhaltlichen Anspruch der Sender entsprechen".
Ramón Wagner hingegen meint, dass das Verschwinden einer derartigen Show nicht automatisch auch Besserung garantiert und warnt: "Eine Absetzung löst das Problem nicht, wenn man aus den Fehlern nicht lernt. Dann passiert in einer anderen Show mit anderem Namen eine ähnliche Sache." Im Umkehrschluss hätte er sich sogar eine dritte Staffel von "Promis unter Palmen" vorstellen können – aber eben nur "mit Lerneffekt".
Für Sat.1 findet Ramón im Übrigen klare Worte. Seiner Meinung nach griff der Sender überhaupt nur ein, weil sich viele über "Promis unter Palmen" beschwerten und nicht aufgrund autonomer moralischer Überlegungen:
Umso interessanter wird jetzt zu beobachten sein, wie RTL künftig mit seinem großen "Problemformat" umgeht: "Das Sommerhaus der Stars" ist bislang untrennbar verbunden mit Mobbing, Spuckattacken und Alkoholexzessen.
Gerüchten zufolge möchte der Sender in der nächsten Staffel konsequent gegen mobbende Kandidaten vorgehen und sie direkt aus der Sendung werfen. Gegen die Zusammenstellung der diesjährigen Teilnehmer wurde bereits einiges an Kritik laut. Der Vorwurf: zu langweilig, zu unbekannt (selbst für Reality-TV-Verhältnisse).
Ramón Wagner sieht die Verantwortlichen vor einer schwierigen Aufgabe und beschreibt das Dilemma, vor dem RTL steht: "Ich glaube, der Druck wird bei allen Formaten dieser Art groß sein. Das 'Sommerhaus' sorgte ja bereits 2020 für Schlagzeilen. Ich bin gespannt wie man es umsetzen wird. Niemand will eine komplett langweilige Reality-Show sehen. Anspucken und homophobe Attacken will aber ebenfalls niemand sehen. Insofern ist die Herausforderung groß."
Anredo freut sich eigenen Angaben nach sehr auf das nächste "Sommerhaus"-Kapitel, und das aus einem bestimmten Grund: "Nicht, weil mich die Prominenz umhaut, sondern weil nicht per se auf Konflikt und Krawall gecastet wurde". Doch wie sollte RTL seine Formate grundsätzlich überhaupt sinnvoll reglementieren? Dazu hat der Trash-TV-Experte eine klare Vorstellung:
Generell glaubt Anredo nicht, dass die Sender ihre Shows im Einzelnen jetzt im großen Stil entschärfen, fügt aber hinzu: "Ihnen wurde durch ihre eigenen Eskalationen und das Feedback des Publikums bloß deutlich vor Augen geführt, in welchem Rahmen sie ihre Sendungen dramaturgisch stattfinden lassen können und wo dieser in der Vergangenheit gesprengt wurde."
Die Reality-TV-Kenner sind sich darüber einig, dass Menschenverachtung keinen Platz im Fernsehen haben sollte. "Wer solche Äußerungen zeigt oder [...] durch das Casting (Homophober trifft Drag Queen) provoziert und sich tatenlos hinter der Ausrede 'Ist halt Reality-TV' versteckt, ignoriert seine Verantwortung", befindet Anredo.
Doch auch abseits dessen schreibt er den Sendern eine gewisse Sorgfaltspflicht zu. Sowohl durch eine "Einordnung für die Zuschauerinnen und Zuschauer als auch mit deutlichen Konsequenzen innerhalb der Sendung" müssen die Anstalten aktiv werden, wenn eine Situation eskaliert. Auf den Punkt gebracht bedeutet das dann:
Ramón Wagner spricht sich ebenfalls für ein schnelles Einschreiten in Krisensituationen während der Produktion aus. Für ihn ist das auf jeden Fall besser, als die Reaktion des Publikums erst einmal abzuwarten: "Wenn diese Grenzen überschritten werden, kann man jederzeit einschreiten und Teilnehmer disqualifizieren. Das ist in jedem Fall glaubwürdiger, als im Nachgang um Entschuldigung zu bitten, wenn die Kritik der Zuschauer immer lauter wird."
Eine Menge los ist momentan auch im Bereich der Casting-Shows. Hier steht besonders RTL vor einem entscheidenden Schritt, denn bei "DSDS" müssen die Fußstapfen von Dieter Bohlen ausgefüllt werden – und die Quoten wieder steigen.
Nicht wenige Fans scheinen das Format aufgegeben zu haben, das zumindest legen zahlreiche Kommentare bei Social Media nahe. Ist die Show in den Köpfen vielleicht einfach zu stark mit Bohlen verknüpft? Ramón Wagner sieht jedenfalls schwierige Zeiten auf die Produzenten zukommen: "Ich glaube, 'DSDS' wird ohne Dieter Bohlen zu kämpfen haben – auch dann, wenn die Show 'familienfreundlich' ist. Eine perfekte Lösung gibt es dafür nicht."
Anredo erblickt dagegen eine Chance und lobt den Sender für seine Bohlen-Entscheidung: "'DSDS' hat sich seit fast zwei Jahrzehnten immer wieder verändert, da finde ich es nur konsequent, endlich auch mal den einen Baustein zu verändern, an den man sich scheinbar nie zuvor ran getraut hat."
"Germany's next Topmodel" auf der anderen Seite lief in diesem Jahr wieder einmal sehr erfolgreich und erhielt sogar von einigen ansonsten kritischen Betrachtern Lob für den verstärkten Fokus auf Diversität. Dabei gibt Ramón zu bedenken: "'GNTM' erfindet sich seit Jahren neu." Gleichzeitig weist er darauf hin, dass es auch 2021 "Drama" gab – für ihn machte eine "gute Mischung" den Unterschied.
Anredo kommt indes zu dem Ergebnis: "So viel hat sich da gar nicht geändert. Nur spielen heute zum Glück Geschlechterstereotypen, Gewicht oder Größe der Models kaum noch eine Rolle." Eben dies bilde "GNTM" sehr gut ab.
Doch könnte mehr Diversity auch "DSDS" zurück in die Erfolgsspur bringen? "Das allein ist kein Garant für gute Einschaltquoten", befindet Anredo. Im Übrigen habe auch Dieter Bohlen schon Vielfalt bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern gefordert.