Lin-Manuel Miranda ist hierzulande nicht ganz so bekannt wie im englischsprachigen Raum, wo er geradezu vergöttert wird. Doch die meisten von uns haben, vielleicht ohne es zu wissen, schon etwas von ihm gehört oder gesehen: Miranda hat neben erfolgreichen Musicals wie "Hamilton" und "In the Heights" auch für viele Disney-Filme komponiert – zuletzt beispielsweise für den Oscar-nominierten "Encanto".
Watson hat Lin-Manuel Miranda zur Premiere des deutschen "Hamilton"-Musicals in Hamburg getroffen. Wie das neue Musical ist, kannst du hier lesen.
watson: Warum hast du dich für die erste fremdsprachige Adaption von "Hamilton" für Deutschland entschieden?
Lin-Manuel Miranda: Zunächst, weil Hamburg Hamburg ist. Es gibt nur zwei Städte, die lang laufende Produktionen unterstützen: das Londoner West End und Hamburg. Und ich habe das Glück, dass in meiner Familie Deutsch gesprochen wird, dank meiner Frau. Sie kommt aus der Dominikanischen Republik und ihre Mutter ist aus Österreich. In meinem Umfeld wird also sehr viel Deutsch gesprochen. Ich spreche zwar kein Deutsch, aber ich war von der Möglichkeit, das Stück zu übersetzen, wirklich begeistert. Und ich bin begeistert von der Arbeit, die dabei geleistet wurde.
Wie konntest du dann sicherstellen, dass die deutsche Adaption gut ist?
Ein großer Teil des Verdienstes geht an Kurt Crowley. Er war der stellvertretende Dirigent unserer ursprünglichen Broadway-Besetzung. Er hat Deutsch gelernt, um diesen Job zu machen, weil er mit der Partitur so vertraut ist wie niemand sonst. Alle drei Monate sagte er: "Wir haben fünf neue Songs. Lasst sie uns anhören." Mir wurde ein dreispaltiges Dokument vorgelegt: mein Text, die deutsche Übersetzung und dann die wörtliche Übersetzung des Deutschen. Denn ich habe den Übersetzern gesagt: "Ich spreche kein Deutsch, deswegen ist mein Ohr nicht auf die Reimschemata eingestellt." Für mich ist es wichtig, dass man diese so weit wie möglich beibehält. Wir müssen die Muskelkraft dieser Reimschemata spüren. Denn in meiner Show reimen sie sich nicht nur am Ende der Zeile, es gibt eine Menge interner Reime.
Du bist also zufrieden?
Ich war wirklich beeindruckt, wie gut sie das hinbekommen haben. Oft habe ich sie gebeten, diesen und jenen Teil für mich zu singen, um sicherzugehen, dass die Menschen ihn auch wirklich sagen können. Denn ich wollte keine wirklich schöne Übersetzung haben, die ein Schauspieler nicht aussprechen kann und die sich nicht natürlich anfühlt. Das ist immer deine Aufgabe, wenn du einen Text für ein Musical schreibst: Er muss sich anfühlen, als würden echte Menschen miteinander reden. Und so musste der Text mehrere Tests bestehen, um das zu schaffen. Wenn die Metapher zu weit von meiner ursprünglichen Absicht entfernt war, sagte ich: "Gibt es einen anderen Weg, das zu sagen?" Das war ein dreijähriger Prozess.
Welches Lied war am schwierigsten zu übersetzen?
Ich bin mir sicher, dass die Übersetzer mit dem Song "My Shot" die größte Mühe hatten, weil es den meisten Text hat. Es ist einfach ein langer Song, der sehr schnell ist. Aber ich glaube, am meisten hin und her ging es bei "Washington on your side". Denn das ist eine gebräuchliche Redewendung im Englischen und es hat sowohl die wörtliche Bedeutung von: "George Washington steht hinter dir", aber auch "Das Establishment steht hinter dir". Wenn wir an Washington denken, dann ist das in den Vereinigten Staaten eine Kurzform für politische Macht. Die politische Macht steht hinter dir, ist auf deiner Seite. Und so war es im Deutschen sehr schwierig, einen Ausdruck zu finden, der beide Bedeutungen zusammenfasst.
Du hast so viele Erfolge und Projekte in so kurzer Zeit: Um es wie in "Hamilton" zu sagen: "Bist du jemals zufrieden?"
Einer der Schauspieler fragte mich: "Identifizierst du dich mehr mit Hamilton oder mit Burr?" Und ich bin genau in der Mitte. Ich bin nicht der Typ, der ständig schreibt, dann ein paar Stunden schläft, mitten in der Nacht aufwacht, weitermacht und denkt: "Was soll ich sonst machen?" Ich brauche Fristen und an manchen Morgen bin ich Hamilton, an anderen bin ich Burr. (lacht)
Was fällt dir zuerst ein, der Text oder die Musik?
Jeder Song hat einen anderen Entstehungsprozess. Die Eröffnungsnummer war der erste Song, den ich geschrieben habe und ich fragte mich: "Kann ich die ersten beiden Kapitel von Ron Chernows Buch in 16 Takten zusammenfassen?" Das war meine Herausforderung an mich selbst. Ich war wie eine Schlange, die einen Elefanten frisst: Ich musste enorme Mengen an amerikanischer Geschichte verdauen und sie in Zweizeiler zerlegen, damit sie sich reimen, natürlich und gesprächig wirken.
Und bei anderen Songs?
Bei dem Song "My Shot" war der Text zuerst da, aber "Satisfied" ist ein Beispiel dafür, dass die Musik zuerst da war. Und dann gab es noch das Finale, das kam alles auf einmal zu mir. Ich erinnere mich an den Morgen, an dem ich es schrieb: Ich heulte wie ein Schlosshund. Wenn du am Ende der Show geweint hast, habe ich mehr geweint als du. Ich weinte sozusagen in das Rezept hinein, bevor du es gegessen hast. (lacht)
Was macht mehr Spaß: Theaterstücke zu schreiben oder sie zu spielen?
Ehrlich gesagt macht mir das Schreiben sehr viel Spaß, aber es ist schwieriger. Ich habe immer gesagt: "Schreiben ist wie ein Auto bauen und Spielen ist, wie es zu fahren." Hamilton ist ein 14-Gänge-Menü für einen Schauspieler: nämlich eine Revolution zu starten, sich zu verlieben, eine Affäre zu haben, einen Job zu verlieren. Du kannst ein ganzes Leben in zweieinhalb Stunden leben. Das macht als Schauspieler wirklich Spaß.
Ich erinnere mich zum Beispiel an den Moment, als ich zum ersten Mal an den Song "Wait for it" dachte und das war einer meiner stolzesten Momente als Autor. Es sind verschiedene Arten von Spaß. In der Show zu sein, ist mehr wie eine Achterbahnfahrt und das Schreiben ist eine Menge mühsamer Arbeit und kleiner Durchbrüche hier und da.
Gibt es Projekte oder ein Thema, das du eines Tages angehen willst?
Ich denke nicht in Themen, denn das ist schlechtes Theater. Es gibt ein paar Autoren, die das wirklich gut können. Ich gehöre nicht zu ihnen. Ich verliebe mich in die Geschichte, von der ich glaube, dass ich sie erzählen kann.
Was hat dich an Hamiltons Geschichte so fasziniert?
Für mich war es die Tatsache, dass Hamilton zu jedem Zeitpunkt seines Lebens etwas geschrieben hat, und dann hat sich sein Leben verändert. Er schrieb sich seinen Weg aus dem karibischen St. Croix heraus. Er schrieb sich seinen Weg zu Washingtons Sekretär und er schrieb sich in seinen politischen Ruin. Das war faszinierend für mich. Ich suche einfach nach Geschichten, die mich nicht in Ruhe lassen. Man kann nicht nur eine einzige gute Idee haben. Man muss weitere Ideen generieren, um die Leidenschaft aufrechtzuerhalten, die man braucht, um die Sache zu beenden.
Half es bei "Hamilton" dranzubleiben, weil Obama einer deinen größten Fans war?
Er hatte keinen Anteil an der Inspiration dafür, denn die hatte ich schon zuvor. Aber ja, das war ein großer Schub für mein Selbstbewusstsein, denn es war das erste Mal, dass ich einen der Songs in der Öffentlichkeit ausprobiert habe. Ich hatte wirklich nur diese 16 Takte Musik, und ich dachte mir: "Wenn es ihnen nicht gefällt, ist es vielleicht eine schlechte Idee." Wenn ich auf mein jüngeres Ich zurückblicke, denke ich: "Wie mutig war ich, ein unerprobtes Stück im Weißen Haus aufzuführen?" Aber ich habe es geschafft. Es hat großartig funktioniert.