Früher oder später wird Deutschland einem Lieferstopp von russischer Energie zustimmen, glauben FDP-Fraktionsvize Alexander Graf Lambsdorff, die ehemalige Nato-Strategin Stefanie Babst und der Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, Christoph Heusgen. Die deutsch-ukrainische Publizistin Marina Weisband zeigt sich in der Sendung von "Anne Will" dagegen von den Debatten um Sanktionen frustriert – und Verteidigungsministerin Christine Lambrecht räumt Fehler des deutschen Bundestags ein.
Das waren am Sonntagabend die Gäste von Anne Will:
Der Bundestag ging nach der Rede des ukrainischen Präsidenten Wolodymir Selenskyj direkt zur Tagesordnung über. Das sei ein Fehler gewesen, sagt Verteidigungsministerin Christine Lambrecht gleich zu Beginn der Sendung, in der noch so viele Fehler eingeräumt werden. "Die Idee war, diese Rede für sich stehen zu lassen", sagt sie, doch das sei falsch gewesen. "Eine Reihe falscher Entscheidungen", sagt auch Alexander Graf Lambsdorff, stellvertretender Fraktionsvorsitzender der FDP. "Hinterher ist man immer schlauer", sagt auch Christopher Heusgen, der Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz.
Will kommt dann auf ihre eigentliche Frage zu sprechen: Wird dieser Krieg ein Krieg ohne Ende? Stefanie Babst war 22 Jahre lang Führungsstrategin bei der Nato und glaubt nicht an ein baldiges Ende der Angriffe auf die Ukraine. "Dieser Krieg wird in den folgenden Wochen und Monaten weiter eskalieren", sagt sie. Putin könne nicht zurückrudern, und werde weiter sein oberstes Ziel verfolgen, die Ukraine, zumindest einen Großteil der Ukraine, zu einer "Art von Mundstaat" zu machen.
Das alles sei so frustrierend, sagt die deutsch-ukrainische Publizistin Marina Weisband im Laufe der Sendung immer wieder. "Meine Familie wünscht sich von ganzem Herzen eine Flugverbotszone," sagt Weisband, die in Kiew geboren wurde. Sie verstehe zwar die Angst der Nato, sagt aber auch, dass man dass dafür dann ökonomisch alles tun müsse, um Putin zurückzudrängen – was Deutschland wiederum nicht tue. Ein Energie-Embargo geht Deutschland bisher noch nicht ein, genau aus diesen Gründen: Wirtschaftseinbußen, erhöhte Energiekosten, Arbeitslosigkeit. Weisband sagt, sie könne die Gewichtung des möglichen Verlustes von zwei Prozent Wirtschaftsleistung im Vergleich zum Verlust von Menschenleben nicht mehr mittragen.
Nato-Expertin Babst dagegen geht davon aus, dass Deutschland kurz oder lang das Energie-Embargo mitttragen werde, das unterstützen auch Heusgens und Grad Lambsdorff. "Jeder will dieses Embargo", sagt der FDP-Politiker. "Ich habe aber die Befürchtung, dass es an dem Krieg kurzfristig nichts ändern wird", sagt Babst. Weisband widerspricht: In winzigen Schritten scheine Putin zumindest rhetorisch zurückzurudern, weil er nicht mit dem starken Widerstand der Ukrainer gerechnet habe. Weisband glaubt, dass ein kurzfristiges Embargo schon Wirkung hätte, um so schnell wie möglich einen Waffenstillstand zu bewirken: "Stärke ist genau die Sprache, die Putin versteht", sagt Weisband. Jeden Stopp, den die Nato nicht eingeht, sei eine Einladung für Putin.
Dann widerspricht wiederum Graf Lambsdorff: Er halte den Präsidenten noch immer für forsch, während die militärische Kampagne ins Stocken gerät. Putins Auftritt im Moskauer Stadion vor wenigen Tagen habe ihn fassungslos gemacht. "So stelle ich mir den Sportpalast vor, als Goebbels damals dort gesprochen hat," sagt Graf Lambsdorff.
Heusgen war jahrelang Berater in der Merkel-Regierung und hebt hervor, dass Deutschland als global viertgrößte Wirtschaftsmacht mehr Führung übernehmen müsse. Doch die Versäumnisse scheinen gigantisch: Vor allem liege es am Gas, über die Jahre wurden keine LNG-Terminals gebaut, man habe Putin falsch eingeschätzt, die wenigsten hätten geglaubt, dass ein Land ein anderes in Europa überfällt.
"Es ist der Ukraine nicht geholfen, wenn unsere Wirtschaft jetzt zusammenbricht," argumentiert Heusgen genauso wie der Großteil der Führungspolitiker derzeit. Graf Lambsdorff verteidigt Wirtschaftsminister Habeck: Dieser würde alles tun, um die Energie-Abhängigkeit zu reduzieren, lege aber gleichzeitig offen, dass dies nicht sofort möglich sei. "Sanktionen müssen dann auch durchgehalten werden“, sagt auch Lambrecht.
Graf Lambsdorff glaubt zudem, dass, wenn die Nato die Ukraine 2008 aufgenommen hätte, es diesen Krieg sofort gegeben hätte. Die Aussage des ehemaligen Nato-Generals Rasmussen, dass die Entscheidung gegen die Nato-Aufnahme ein historischer Fehler gewesen sei, hält er deswegen für falsch.
Kurz geht es in dieser "Anne Will"-Sendung auch um die Bundeswehr – schließlich sitzt Verteidigungsministerin Lambrecht in der Runde: Von den 2700 Stela-Raketen seien erst 500 geliefert, wirft Will ein. "Wir reden nicht öffentlich darüber", sagt Lambrecht. Diejenigen, die diese Lieferungen durchführen, dürfen nicht in Lebensgefahr gebracht werden, sagt sie, weshalb das Wann, Wo und Wie viel ein Geheimnis bleibe. Das sei auch mit der ukrainischen Regierung so abgesprochen. Dann räumt sie ein: Aus den derzeitigen Beständen der Bundeswehr könne man so gut wie nichts mehr liefern.
Dann sagt Will selbst, dass diese Diskussionen den Menschen in der Ukraine derzeit nichts helfen würden. Die Ukraine könne zu Verhandlungen zwingen, glaubt Lambrecht, weil Putin stark ausgebremst wurde. Und Weisband? Sie ist auch am Ende der Sendung frustriert – weil über Sanktionen gesprochen wird unter der Voraussetzung, dass es Deutschland militärisch und ökonomisch nicht schade. Ihr Resultat daraus: "Wenn das unsere internationale Sicherheitsordnung ist, dann brauchen wir eine neue." Wir haben doch eine, sagt Heusgens. An der Charta der Vereinten Nationen müsse festgehalten werde, Putin müsse weiter isoliert werden, wiederholt er. Am Ende wiegen jedoch Weisbands Worte am stärksten: Am täglichen Sterben der Menschen in der Ukraine ändert das derzeit nichts.