Was in den vergangenen Tagen in Afghanistan passiert ist, hat die Welt erschüttert. Nachdem die Bundeswehr mit ihren Verbündeten 20 Jahre in dem Land Aufbauarbeit geleistet hat, brach nun innerhalb weniger Tage alles zusammen und die Taliban konnten das Land zurückerobern. Bei "Markus Lanz" ging es am Donnerstagabend um das Versagen bei der Evakuierung der Ortskräfte in Kabul. Während Unionspolitiker Tilman Kuban versuchte, Teile seiner Parteikollegen in Schutz zu nehmen, wetterten die anderen Gäste gegen die für Afghanistan verantwortlichen Ministerien. Der Migrationsforscher Gerald Knaus urteilte dabei entschieden, dass es der Europäischen Union und auch Deutschland nicht um Solidarität mit Menschen geht – sondern darum, sie abzuschieben.
Mit seiner Rede vor der Bundespressekonferenz hat er viele bewegt: Des Bundeswehrsoldat Marcus Grotian warnte die Regierung nicht nur bereits vor Monaten vor einer Katastrophe in Afghanistan, sondern schrieb auch fünf Briefe an das Bundeskanzleramt, in denen er um Hilfe bat. Er beschreibt in seiner Rede, wie "überwältigt er von seiner Fassungslosigkeit" sei, wie "fassungslos darüber, dass die Regierung die Verantwortung von sich weist".
Seine Fassungslosigkeit wird auch im Studio deutlich. Er beschreibt, wie er gemeinsam mit Kollegen noch versuchte, sogenannte Safe-Häuser zu eröffnen, damit sich die Ortskräfte aus ganz Afghanistan nach Kabul in Sicherheit bringen konnten. Er wusste, dass diese Stadt zuletzt fallen würde. Und er wusste, dass diese Menschen, die Deutschland in den vergangenen 20 Jahren bei der Arbeit vor Ort unterstützt haben, nur in Kabul ein Visum beantragen können. Denn trotz der prekären Lage verlangte Deutschland, dass die bürokratischen Prozesse für eine Einreise nach Europa beachtet werden.
Grotian ist der Meinung, dass bereits vor Monaten hätte geklärt werden müssen, wie mit den Ortskräften und ihren Familienangehörigen umgegangen werden soll, sollte sich die Lage verschlimmern. Doch passiert ist nichts, erklärt der Soldat. Aus Sorge, eine Vereinfachung der bürokratischen Prozesse könnte einen sogenannten Pull-Effekt auslösen, also dafür sorgen, dass noch mehr Menschen sich aus Afghanistan aus dem Weg nach Europa machen, machte die Bundesregierung deshalb gar nichts. Wie kann es sein, dass die Lage so sehr eskaliert und die Regierung kaum handelt, will Moderator Markus Lanz wissen.
"Es gab eine komplette Verantwortungsdiffusion", erklärt die FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann. So hätten sich die Verantwortlichkeiten zwischen dem Innen-, dem Entwicklungs-, dem Verteidigungsministerium und dem Auswärtigen Amt vermischt, ohne dass wirklich Verantwortung übernommen wurde. Zudem kritisiert die Verteidigungspolitikerin auch den Ex-Präsidenten der USA, Donald Trump, der mit der Taliban einen "Abzugstermin ohne Bedingungen" vereinbarte.
Sein Amtsnachfolger Joe Biden habe dann noch schneller gehandelt, als erwartet. Die Schnelligkeit wäre für die Bundesregierung auch überraschend gewesen. Trotzdem: Strack-Zimmermann ist der Meinung, dass es eine Katastrophe mit Ansage war. Neben dem "Missmanagement" des Außenministers Heiko Maas, habe auch Innenminister Horst Seehofer falsch gehandelt. Ihm sei es immer nur darum gegangen, Geflüchtete nicht erneut zu einem Wahlkampfthema machen zu müssen.
Bereits Anfang Mai dieses Jahres hatten ihm Freunde vor Ort mitgeteilt, dass die "Situation dramatisch" sei, sagt der Migrationsforscher Gerald Knaus. "Ich dachte, hier läuft etwas ganz schief", beschreibt er seine Gedankengänge. Nachdem am 4. August ein Anschlag auf den Verteidigungsminister Afghanistans verübt wurde, war ihm spätestens klar, wie schlimm die Lage wirklich ist. Im Anschluss wurden die Amerikaner von ihrer Regierung dazu aufgerufen, das Land zu verlassen. Und während die Amerikaner abzogen, sorgten sich unterschiedliche europäische Länder um ganz andere Dinge.
Denn am 05. August schrieben unterschiedliche europäische Länder einen Brief an die Europäische Kommission, in dem drin steht, dass Abschiebungen nach Afghanistan Priorität haben sollen. "Zehn Tage bevor Kabul fällt, kritisiert die Kommission noch die afghanische Regierung, weshalb keine Abschiebeflüge mehr stattfinden", erzählt der Experte fast schon aufgelöst, "obwohl die Sicherheitslage eine Katastrophe war".
"Wusste man wirklich nicht, was da los ist oder war es einem einfach egal?", fragt er noch hinterher. Wenn er der Beschreibung Knaus' zuhört, bekommt er "ein flaues Gefühl im Magen", sagt der Bundesvorsitzender der Jungen Union Tilman Kuban – und das, obwohl er selbst er kürzlich geäußert hatte, dass sich 2015 nicht wiederholen dürfe. Er sagt, er sei dafür, dass alles dafür getan werde, die Menschen dort rauszuholen und ihnen zu helfen.
Lanz wirft dem CDU-Politiker vor, dass seine Partei dagegen gestimmt habe, die Leute schon vor Wochen zu evakuieren oder den Papier-Prozess zu erleichtern. Die Kanzlerin habe sich sehr wohl dafür eingesetzt, dass es Visa-Erleichterungen gibt. Die Bürokratie habe es jedoch nicht ausgeführt, kommentiert Kuban. Auch Grotian kann nicht verstehen, warum das nicht gemacht wurde. Als Begründung solle man aufgeführt haben, dass man gegen Sammelaufnahmen ist und stattdessen Einzelfälle prüfen wolle. Der Soldat kritisiert jedoch, dass es dafür Sammelablehnungen gegeben habe.
Moderator Markus Lanz will jedoch nicht locker lassen und noch einmal von Kuban wissen, was die Evakuierung von Menschen, die für Deutschland gearbeitet haben, mit der Migrationswelle von 2015 zu tun habe. Der Unionspolitiker ist der Meinung, dass diese "Unkontrolliertheit" von damals sich nicht wiederholen dürfe. Weder die "Überforderung der Kommunen", noch die "Schlangen vor den Ämtern" und auch Fälle wie Anis Amri – der Mann, der auf dem Breitscheidplatz in Berlin einen Terroranschlag verübte und einige Menschen in den Tod riss.
"Ich kann da nicht folgen. Ich verstehe den Vergleich nicht", sagt Lanz. "Es heißt, dass wir es besser machen müssen", versucht es Kuban erneut. "Aber hierbei geht es doch um Leute, mit denen wir zusammengearbeitet haben." "Ja, da haben wir ja auch gar keinen Dissens". "Aber warum dann der Vergleich?", bohrt Lanz nach. "Sie haben angefangen", entgegnet Kuban. "Nein, das haben Sie gesagt", geht das Gespräch weiter und verläuft dann in einem Durcheinander, sodass kaum mehr etwas verständlich ist.
Die FDP-Politikerin ist schockiert von dem Vergleich mit Anis Amri. Dieser Mann sei schon 2011 nach Deutschland gekommen und mehrfach vorbestraft gewesen. Dass Kuban die Geflüchteten in einem Atemzug mit ihm nennt, bezeichnet sie als "perfide".
Der Migrationsforscher Knaus stimmt ihr zu und kritisiert eher das "intellektuelle, strategische und politische Versagen" in Afghanistan. Er ist der Meinung, dass viele Staatsoberhäupter in Europa nicht mehr in der Lage seien, die Zahlen der Geflüchteten richtig zu lesen. Denn sonst hätten sie gesehen, dass kaum mehr Menschen über die Grenzen kommen – diese sind dicht.
Für ihn sei daher das echte Problem, dass es für Menschen kaum mehr Wege gibt, um zu fliehen. Vor allem gebe es keine legalen Wege. "Jedes Zeichen von Humanität" sei zu viel für die Europäische Union, lautet das vernichtende Urteil des Forschers. Was ihm jedoch Mut mache, seien diese neuen "Wellen der Empathie" in Deutschland mit den Menschen in Afghanistan. Denn bei diesen Menschen gehe es nicht "um abstrakte Massen wie damals, sondern um Menschen, die man sich vorstellen kann."
Am Ende der Sendung bleibt die Frage, was nun passieren wird, wenn die Taliban den Flughafen in Kabul schließen und niemand mehr über den Luftweg dort rausgeholt werden kann. Knaus ist der Überzeugung, dass es zwar zu spät ist für die Dinge, die schon passiert sind, aber nicht zu spät, um noch zu handeln. Unter den Menschen seien viele, die "auf uns gebaut haben. Wir schulden ihnen was", sagt er.