"#TheQueue" – eine Warteschlange hat jetzt ihren eigenen Twitter-Hashtag. Das kann den Ausnahmezustand in London dieser Tage kaum besser zum Ausdruck bringen. Vor der Beisetzung von Königin Elizabeth II. ist ihr Leichnam in der Westminster Hall aufgebahrt. Hier haben Trauernde insgesamt vier Tage lang die Gelegenheit, noch einmal aus der Nähe Abschied zu nehmen. Die Tore sind bis Montagfrüh offen.
Doch wer es bis dorthin schaffen will, muss eine Menge Kondition und starke Nerven mitbringen: Die Warteschlange erstreckte sich auf ihrem Höchststand auf acht Kilometer, die Wartezeit betrug nach Angaben des Fernsehsenders BBC maximal über 20 Stunden.
Am Freitag war es kurzzeitig nicht mehr möglich, sich hinten anzustellen, weil es im Southwark Park schlicht zu voll wurde. So formte sich zwischenzeitlich eine Warteschlange hinter der Warteschlange.
Am Sonntag dürfte der Ansturm seinen Höhepunkt überschritten haben, nunmehr beträgt die Wartezeit "nur noch" 13 Stunden. Erneut aber haben viele Menschen eine Nacht in der Kälte durchgestanden. Auf Youtube ist ein "Queue Tracker" online, der den aktuellen Stand ausweist.
Die Strecke führt für die Wartenden entlang der Tower Bridge, der London Bridge und der Waterloo Bridge. Wer die Lambeth Bridge überquert hat, ist fast am Ziel. Unmittelbar davor sind am Sonntagmorgen zahlreiche Royal-Fans mit hellblauen Decken anzutreffen, die von Sicherheitskräften an der Tower Bridge ausgegeben wurden. Sie haben die Nacht durchgemacht.
"Es war verdammt kalt", berichtet eine Frau, die sich schon am Abend zuvor angestellt hatte. An Erholung war hier für niemanden zu denken, denn die Warteschlange ist konstant (mal schneller, mal langsamer) in Bewegung. Nur einmal habe die Reihe für rund 20 Minuten stillgestanden. Die Menschen halten sich gegenseitig bei Laune und nutzen mitunter die Gelegenheit, neue Bekanntschaften zu schließen. Für Verpflegung haben sie selbst gesorgt, viele sind mit Rücksäcken und Proviant bepackt.
Die Wartenden kommen aus verschiedenen Ecken des Landes. Vermutlich braucht es diese Verbindung zur Monarchie, um eine derartige Herausforderung auf sich zu nehmen, könnte man zumindest denken.
Ein junger Mann und seine Mutter jedoch haben nach eigenen Angaben gar nicht einmal so viel für die Royals übrig – sie sind in erster Linie hier, um den Vater beziehungsweise Ehemann zu begleiten, der ein "großer Monarchist" sei und sich gerade irgendwo weiter hinten tummele. "Ich war mir nicht sicher, ob er das allein schaffen würde", grinst der Mittzwanziger.
Geschummelt wird übrigens nicht. Zu Beginn ihrer kräftezehrenden Reise durch London erhalten alle ein Armband. So soll vermieden werden, dass sich Menschen unbemerkt dazwischen drängeln. Es gibt verschiedene "Stationen" mit Dixi-Toiletten. Diese können genutzt werden, ohne befürchten zu müssen, die Position zu verlieren.
Überhaupt treten nicht gerade wenige den Trip zusammen mit Verwandten an. Ein anderes Mutter-Sohn-Gespann erzählt im Gespräch, sich gedanklich schon länger hierauf vorbereitet zu haben. Körperlich ist die Frau kurz vor der Lambeth Bridge jedoch an ihrer Belastungsgrenze angekommen. Sie lacht etwas gequält und klagt:
Die beiden aus Bristol haben sogar zwei Klappstühle dabei, die in den vergangenen Stunden allerdings nicht wirklich zum Einsatz gekommen sind. Jetzt hinzuschmeißen wäre geradezu absurd und so kämpfen sich Mutter und Sohn auch noch durch die letzten paar hundert Meter.
Eine Familie ist mit drei Generationen unterwegs: Großmutter, Tochter, Enkelin. Das Mädchen ist in seine blaue Decke gekuschelt und schaut äußerst missmutig drein. "Sie hat nicht wirklich geschlafen", lautet die logische Erklärung ihrer Mutter dazu. Ein weiblicher Guard ist zur Stelle und versorgt die Kleine immerhin noch mit Handschuhen gegen die Kälte.
Diejenigen, die unter der Waterloo Bridge stehen, müssen noch etwas länger ausharren. Hier ist dafür ein großer Bildschirm aufgebaut, der Archivaufnahmen aus dem Leben der Queen zeigt. Die Anzahl an zu erspähenden blauen Decken ist deutlich geringer als an der Lambeth Bridge, die Temperaturen sind im Laufe des vormittags aber auch gestiegen.
Was immer wieder deutlich wird: Polizei und Sicherheitskräfte sind zu 100 Prozent auf der Seite der Wartenden, obwohl sie durch den ganzen Queen-Trubel natürlich mehr Arbeit haben als sonst. Größere Zwischenfälle scheint es keine zu geben, die Stimmung ist überaus harmonisch. Eine Helferin macht den Menschen unter der Waterloo Bridge sogar Mut und ruft ihnen zu: "Jemand muss euch einfach sagen, wie großartig ihr seid. Bitte haltet durch!"
Schwierige Zeiten stärken oft den Zusammenhalt – das lässt sich momentan wohl fast nirgends auf der Welt so gut und so umfangreich beobachten wie in der britischen Hauptstadt.