
Die Antibabypille ist ein einfaches aber auch nicht unumstrittenes Verhütugsmittel.null / imago images
Vor 60 Jahren gingen in den USA die ersten Antibabypillen über den Ladentisch. Millionen Frauen weltweit setzen bis heute darauf. Über medizinische, politische und gesellschaftliche Kontroversen.
18.08.2020, 16:1418.08.2020, 16:34
Einfach, unkompliziert, zuverlässig: Als
1960 die erste Antibabypille "Enovid" in den Vereinigten Staaten auf
den Markt kam, eröffneten sich für Frauen neue Möglichkeiten. Beim
Verhüten, aber längst nicht nur. Pessare, Kondome oder
abenteuerlichere Methoden? Für viele nun passé: Die Pille habe das
Konzept von Empfängnisverhütung neu definiert, heißt es in einer
medizinhistorischen Studie. Mit der Studentenbewegung und der
sexuellen Revolution in den 1970er Jahren wurde sie auch zum Symbol
des gesellschaftlichen Wandels. Stets war sie auch Anlass für
Debatten. Über Veränderungen und Konstanten in sechs Jahrzehnten:
Anfänge
In den USA war "Enovid" seit 1957 für die Behandlung
gynäkologischer Beschwerden zugelassen. Nach Tests unter anderem in
Puerto Rico, die heutige Standards etwa für die Teilnehmerzahl nicht
erfüllen würden, wurde das Mittel zur Verhütung zugelassen.
Frauenrechtlerinnen hatten den Anstoß für die Forschung gegeben.
Allerdings hätten auch Gedanken wie Eugenik und Rassismus bei der
Entwicklung eine Rolle gespielt, sagt die Medizinhistorikerin Lisa
Malich von der Universität Lübeck. Beim Verkaufsstart in Deutschland
im Jahr 1961 – hier hieß das Produkt "Anovlar" – sei die erste Pille
vorsichtig als Mittel zur "Ovulations- oder Familienkontrolle"
bezeichnet und nur an verheiratete Frauen abgegeben worden.
Für Gesunde
"Das Besondere an der Pille ist, dass sie von gesunden
Frauen und über längere Zeiträume eingenommen wird", sagt Malich.
Unerwartet schnell habe sie sich zum Bestseller entwickelt, schon
Mitte der 1960er Jahre verhüteten Millionen Frauen damit. Dass manche
Autoren darin das erste "Lifestyle-Medikament" der Geschichte sehen,
stößt bei der Expertin auf Skepsis: Damit werde die Bedeutung der
Verhütung für Frauen unterschätzt. Risiken bei damaligen Abtreibungen
waren schließlich auch einer der Faktoren für die Pillen-Entwicklung.
Wirkung
Heute gibt es eine Vielzahl an Präparaten. Meist wird eine
Kombination zweier künstlich hergestellter Hormone genutzt, die den
körpereigenen Hormonen Östrogen und Gestagen ähneln. Sie bewirken,
dass im Körper kein weiteres Ei heranreift und der Gebärmuttermund
mit festem Schleim verschlossen wird, so dass es für Spermien kein
Durchkommen gibt. Die Gebärmutterschleimhaut baut sich nicht neu auf.
Die ersten und die heutigen Pillen unterscheiden sich deutlich.
Risiken und Nebenwirkungen
Die Debatte darüber ist keineswegs nur
eine aktuelle. Die Beliebtheit der Pille wurde schon kurz nach der
Markteinführung etwas gedämpft: Durch die einst deutlich höhere
Östrogendosis sei auch das Risiko für Thrombosen und Lungenembolien
etwas höher gewesen, schildert Christian Albring, Präsident des
Berufsverbands der Frauenärzte, und ebenso das für Nebenwirkungen wie
Kopfschmerzen, Wassereinlagerungen oder Zwischenblutungen. Gestagene
habe es noch nicht in der heutigen Vielfalt gegeben.
Malich zufolge hat sich auch wegen der Pille eine
Frauengesundheitsbewegung entwickelt: Themen wie Abtreibung,
Pillen-Nebenwirkungen, Thrombose-Risiko und gefürchtete Folgen wie
Krebs kamen öffentlich zur Sprache. Thrombosen und Embolien sind bis
heute Thema: Wie der AOK Bundesverband erklärt, bekommt mehr als die
Hälfte der Frauen, die die Pille auf Kosten der gesetzlichen Kassen
verordnet bekommt, risikoreichere Präparate der neueren Generation.
Aufklärung
Frauenärzte sehen einen gestiegenen Beratungsaufwand.
Albring erklärte, seit einigen Jahren werde bei jeder erstmaligen
Verschreibung eines Präparats ein vorgeschriebener Meldebogen
ausgefüllt und dabei ausführlich über das Thromboserisiko gesprochen.
Die Vorsitzende des Arbeitskreises Frauengesundheit in Medizin,
Psychotherapie und Gesellschaft, Ingrid Mühlhauser, erklärte hingegen
kürzlich auf dpa-Anfrage: "Die Informations- und Aufklärungsprozesse
in den Arztpraxen entsprechen bisher nicht den wissenschaftlichen
Anforderungen an informierte Entscheidungen." Frauen würden bisher
unzureichend über Nutzen und Schaden der unterschiedlichen
Verhütungsmethoden aufgeklärt.

Kondom und Pille sind in Deutschland die beliebtesten Verhütungsmittel.bild: imago images / ctk photo
Die Autorin Isabel Morelli kritisiert in dem Buch "Kleine Pille,
große Folgen" (erscheint am 17. August), dass Nebenwirkungen von
vielen Frauen nicht als solche bemerkt oder in Kauf genommen würden.
Es fehle an Wissen über den eigenen Körper, den Zyklus und die
Wirkung von Hormonen. Manche junge Mädchen sähen in der Pille eine
"Lifestyledroge", die etwa reinere Haut verspreche.
Verhütung heute
In einer Studie von 2019 der Bundeszentrale für
gesundheitliche Aufklärung (BZgA) erwiesen sich Pille und Kondom als
etwa gleich beliebt unter sexuell aktiven Erwachsenen in Deutschland.
Die BZgA konstatierte einen "Verhaltenswandel": Im Vergleich zur
Vorgängerstudie von 2011 nahm die Kondomnutzung zu, während die Pille
an Zuspruch verlor, vor allem bei Frauen zwischen 18 und 29.
Insgesamt zeige sich "eine eher kritische Einstellung zu hormonellen
Verhütungsmethoden". Fast jede zweite Befragte stimmte der Aussage
zu, dass Verhütung mit Hormonen "negative Auswirkungen auf Körper und
Seele" habe. Verordnungsdaten belegen den Trend bei jungen Frauen.
Zukunft Technik?
Die heutige Kritik kommt aus Sicht von
Wissenschaftlerin Lisa Malich vor allem von jüngeren Frauen, denen
ein ökologisches Leben wichtig ist. Aber auch Technologien, die durch
die Bestimmung des Eisprungs bei der Verhütung helfen sollen,
spielten eine Rolle. Frauenarzt Albring zeigt sich mit Blick auf den
Nutzen solcher Apps äußerst skeptisch. "Insgesamt sehen wir ein
großes Interesse an natürlicher Verhütung, aber in der Praxis ist das
nur für ganz wenige Paare ein sinnvoller Weg, meist wenn schon
irgendwie ein bisschen ein Kinderwunsch besteht und es nicht schlimm
ist, wenn dann doch eine Schwangerschaft eintritt."
Alternativen

Die Spirale wird zu einer immer beliebteren Alternative zur Pille.Bild: www.imago-images.de / imagebroker/schreiter
In den vergangenen Jahren seien häufiger Spiralen
eingesetzt worden als früher, weil es inzwischen kleinere, auch für
junge Frauen verträglichere Modelle gebe, so Albring. "Dass die
Pille als Verhütungsmittel komplett durch andere Methoden ersetzt und
abgelöst werden könnte, ist nicht abzusehen." Es gebe keine derartig
zuverlässigen und alltagstauglichen Alternativen. Manche Kritiker
würden ergänzen: Insbesondere fehlt noch die Pille für den Mann.
International
Nach einem Bericht des Bevölkerungsfonds der Vereinten
Nationen (UNFPA) nutzen geschätzt 232 Millionen Frauen in 120 Ländern
keine Verhütungsmittel, obwohl sie nicht schwanger werden möchten.
Aber immerhin habe sich die Zahl der Frauen, die moderne
Verhütungsmittel wie die Pille einsetzen, zwischen 1990 und 2018
beinahe verdoppelt, auf 840 Millionen. Dies habe zu Rückgängen bei
ungewollten Schwangerschaften und der Müttersterblichkeit geführt.
(lau/dpa)