
Bild: TUT.by
Unerschrocken protestieren die Frauen in Belarus gegen "Europas letzte Diktatur". Wie vor einer Woche gibt es rabiate Festnahmen, betroffen ist auch eine Symbolfigur der Demokratiebewegung in Minsk. Besonderer Schrecken löste aber noch ein anderer Fall aus.
19.09.2020, 17:2819.09.2020, 17:28
Trotz Gewaltandrohung durch die Polizei in Belarus haben sich Frauen in Minsk zu einem neuen
Protestmarsch gegen Staatschef Alexander Lukaschenko versammelt. "Wir
vergessen nicht! Wir vergeben nicht!" und "Lukaschenko w Awtosak" -
zu Deutsch: "Lukaschenko, in den Gefangenentransporter", skandierten
die Demonstrantinnen am Samstag am zentralen Komarowski-Markt. An
mehreren Stellen standen Gefangenentransporter bereit. Autofahrer
hupten den Frauen solidarisch zu, wie ein dpa-Reporter berichtete.
Wie am Samstag vor einer Woche kam es einmal mehr zu zahlreichen
Festnahmen. Die Frauen schrien laut und riefen "Posor!" ("Schande!").
Auch die 73 Jahre alte Nina Baginskaja, eine Veteranin der
Protestbewegung und eine seit ihrem Kampf gegen die Kommunisten zu
Sowjetzeiten bekannte Dissidentin, wurde in einen Transporter
gezwungen. Vor einer Woche waren maskierte Uniformierte ohne
Erkennungszeichen das erste Mal mit brutaler Gewalt gegen die Frauen
vorgegangen. Es gab damals mehr als 100 Festnahmen.
Seit der Präsidentenwahl am 9. August kommt es in Belarus täglich zu
Protesten. Lukaschenko hatte sich mit 80,1 Prozent der Stimmen nach
26 Jahren im Amt zum Wahlsieger erklären lassen. Der 66-Jährige
strebt eine sechste Amtszeit an. Die Opposition hält dagegen Swetlana
Tichanowskaja für die wahre Siegerin.
Der "Marsch der weiblichen Solidarität", wie er hieß, war am Samstag
zunächst ohne Polizeieinsatz durch mehrere Straßen gezogen. "Lang
lebe Belarus!", riefen Frauen, während sie die historischen
weiß-rot-weißen Fahnen trugen. Teils spannten sie Regenschirme in den
Farben der Revolution auf, weil Sicherheitskräfte die Fahnen immer
wieder beschlagnahmen. Die Dissidentin Baginskaja verlor am Samstag
ihre inzwischen siebte Fahne – sie näht die Teile selbst.
Die Demonstrantinnen fordern Neuwahlen ohne Lukaschenko, die
Freilassung aller politischen Gefangenen und die strafrechtliche
Verfolgung der Polizeigewalt. Auch in anderen Städten des Landes
waren die Frauen wie an den vergangenen Samstagen aufgerufen,
friedlich gegen "Europas letzte Diktatur" zu demonstrieren. Das
teilten die Organisatorinnen von Girl Power Belarus in ihrem
Nachrichtenkanal bei Telegram mit.
Lukaschenko-Regime nutzt pefide Taktik
Tichanowskaja lobte aus ihrem Exil in der EU den Mut der Frauen. "Sie
gehen, obwohl ihnen ständig Angst gemacht und Druck auf sie ausgeübt
wird", teilte die 38-Jährige mit. Zugleich warf sie dem Regime Lukaschenkos einen neuen Tiefpunkt vor, in dem es nun auch Kinder
instrumentalisiere. Die Behörden hatten den sechsjährigen Sohn der
Minsker Aktivistin Jelena Lasartschik am Freitag in ein Heim
gesteckt. Hunderte Menschen forderten am Samstag vor der Einrichtung,
den Eltern ihren Sohn zurückzugeben. Lasartschik verließ mit dem Kind
am Vormittag das Heim - unter "Hurra"-Rufen und Applaus der Menge.
Der Fall war auch Thema bei dem Frauen-Protest am Samstag.
Schockiert reagierte der polnische Regierungschef Mateusz Morawiecki.
Wieder nutze die Führung des Landes Kinder als "politische Geiseln".
Die Praxis ist bekannt aus kommunistischen Zeiten der Sowjetunion,
als versucht wurde, den politischen Willen von Frauen auf diese Weise
zu brechen. "Diese Barbarei muss aufhören", schrieb der polnische
Politiker bei Twitter.
Im Wahlkampf hatte auch Tichanowskaja berichtet, dass ihr gedroht
worden sei, ihre Kinder zu verlieren. Sie hatte Sohn und Tochter
daraufhin in das benachbarte EU-Nachbarland Litauen bringen lassen.
Auch ihre Mitstreiterin Viktoria Zepkalo hatte ihre Kinder auf diese
Weise vor dem Zugriff der Behörden geschützt.
"Sie versuchen, uns vor die Wahl zu stellen: entweder den eigenen
Kindern treu zu sein oder dem Land", schrieb Tichanowskaja in einer
Mitteilung. Aber solche Absichten liefen ins Leere, weil die
Entschlossenheit der Frauen unterschätzt werde. "Es gibt nichts
Stärkeres als eine Mutter, die um die Zukunft ihres Kindes, ihrer
Familie und ihres Landes kämpft." Tichanowskaja hatte so ihre
Kandidatur bei der Präsidentenwahl begründet: Sie wolle bis zum
Schluss für ein Leben in Freiheit für ihre Kinder in Belarus kämpfen.
(pcl/dpa)