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Frau mit ADHS: "'Mach deine Post doch einfach auf', funktioniert eben nicht"

Wer ADHS hat, dem fallen manche scheinbar alltägliche Dinge sehr schwer. (Symbolbild)
Wer ADHS hat, dem fallen manche scheinbar alltägliche Dinge sehr schwer. (Symbolbild)Bild: iStockphoto / seb_ra
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Frau mit ADHS: "'Mach deine Post doch einfach auf, wenn sie ankommt' – das funktioniert eben nicht"

"Mein Leben mit Asperger" – die neue watson-Kolumne alle zwei Wochen
23.12.2020, 16:1023.12.2020, 16:13
denise linke
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Ich bin 31 Jahre alt, ich habe einen Job, verdiene genug für meinen Lebensunterhalt und ich habe jahrelang allein einen Haushalt geführt. Ich kümmere mich um meine Haustiere, meine Gesundheit und ich habe ein erfüllendes Sozialleben.

Aber sämtliche wichtige Post wird von meiner Mutter bearbeitet, sie öffnet Briefe für mich, hält meine Unterlagen in Ordnung und erinnert mich gebetsmühlenartig an Überweisungen, wichtige Termine und Behördengänge. Im Grunde ist sie eine nicht bezahlte persönliche Assistentin, die sich um administrative Aufgaben kümmert. Das ist nicht so, weil ich faul bin oder weil meine Mutter ungewöhnlich viel Freude beim Abheften von Bankdokumenten verspürt. Es liegt daran, dass ich diese Dinge nicht tun kann.

Autismus und ADHS sind unsichtbar

Wenn Menschen aufgrund einer Behinderung nicht sehen, gehen oder hören können, verstehen die Leute das und nehmen es hin. Natürlich kann ein Gehörloser nicht zum Hören gezwungen werden, wenn er sich einfach mal ein bisschen Mühe gibt. Das erschließt sich jedem, es würde uns nicht einfallen so etwas Absurdes zu fordern.

"Wenn man mir sagt, 'Denise, mach deine Post doch einfach auf, wenn sie ankommt', funktioniert das eben nicht."

Autismus und ADHS sind größtenteils unsichtbar, meine Behinderung ist im Kopf. Sie hängen damit zusammen, wie mein Gehirn funktioniert, oder besser, nicht funktioniert. Und das ist keine weithin akzeptierte Erklärung dafür, dass man etwas nicht hinbekommt. Menschen mit Depressionen bekommen oft zu hören, sie sollen doch einfach mal was Lustiges unternehmen oder sich anstrengen, nicht so trübselig zu sein, aber so funktioniert eine Depression nicht. Und wenn man mir sagt, "Denise, mach deine Post doch einfach auf, wenn sie ankommt", funktioniert das eben auch nicht.

Denise Linke wurde als junge Erwachsene mit Asperger-Autismus und ADHS diagnostiziert.
Denise Linke wurde als junge Erwachsene mit Asperger-Autismus und ADHS diagnostiziert.null / Andi Weiland
Über die Autorin
Denise Linke, Jahrgang 1989, studierte Politikwissenschaft in Berlin und absolvierte Hospitanzen bei der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" und der "Zeit". Sie ist Buch-Autorin und lebt in Berlin. Für watson schreibt sie alle zwei Wochen über ihr Leben mit Asperger-Autismus und ADHS und erklärt, wie ihre Welt aussieht und was sie so besonders macht.

Weitere Beiträge von Denise bei watson:

- Junge Frau mit Autismus: "Das Klischee ist, dass wir am allerliebsten wie Einsiedler leben"

- Frau mit Asperger-Autismus: "Behinderte Menschen sind keine unfähigen Totalversager"

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Es geht nicht darum, nur Dinge zu tun, die mir Spaß machen

Mir fallen Dinge schwer, die für Nicht-Autisten und Nicht-ADHSler oft auch keine Freude sind, aber nun einmal gemacht werden müssen. Wenn man erklärt, dass man es tatsächlich nicht kann, wegen einer Blockade im Gehirn, weil der Chemiecocktail bei mir nach dem falschen Rezept gebraut wurde, dann klingt das wie eine Ausrede. Ich kann meine Steuer nicht machen, ich kann meine Dokumente nicht in Ordnung halten, es fällt mir sagenhaft schwer, administrative Aufgaben, die zum Leben gehören, auszuführen.

"Das Ausführen unangenehmer Tätigkeiten führt bei mir nicht zu Befriedigung, wenn ich fertig bin."

Bei den Menschen kommt dann an, dass ich mich drücke oder nur Dinge tun will, die super viel Spaß machen. Ich weiß selbst, wie bescheuert das alles klingt. Darum möchte ich einmal versuchen, es zu erklären.

Neurologisch "normale" Leute, man nennt sie auch neurotypisch, haben etwas, was sich Serotonin nennt. Wenn sie etwas Nerviges tun müssen, schüttet ihr Gehirn nach Beendigung der Tätigkeit Serotonin aus, einen Botenstoff, der für das "Belohnungsgefühl" zuständig ist. Es ist befriedigend, Dinge abzuarbeiten, es fühlt sich hinterher gut an, etwas geschafft zu haben. Das Gehirn sagt quasi: Das war ganz schön nervig, hier, ich schenke dir dafür ein wenig Freude. Bei mir ist bedeutend weniger Serotonin vorhanden, die Rezeptoren in meinem Gehirn funktionieren nicht richtig. Das Ausführen unangenehmer Tätigkeiten führt bei mir nicht zu Befriedigung, wenn ich fertig bin.

Nach einer anstrengenden Aufgabe schenkt mein Körper mir keine Belohnung

Stellt euch vor, diese Aufgaben wären ein Berg. Es ist furchtbar anstrengend, ihn zu besteigen, der ganze Weg ist nichts als Quälerei, aber am Ende erreicht man den Gipfel, betrachtet die umliegende Natur von dort oben und wird damit für die harte Arbeit belohnt. Die Mühe hat sich gelohnt, es ist herrlich dort oben auf dem Berg. Das Gehirn schüttet Serotonin aus, die Schwere des Kletterns ist plötzlich zweitranging, man fühlt sich entschädigt.

Ich klettere auch, und für mich ist es ebenso schwer, oder durch mangelnde Konzentrationsfähigkeit sogar noch einen Deut schwerer, aber wenn ich endlich oben angekommen bin, ist da – nichts. Es gibt keinen Ausblick, keine Belohnung für meine Anstrengung, ich bin einfach ausgelaugt und erschöpft. Der Botenstoff Serotonin wird von meinem Gehirn nicht richtig verarbeitet.

"Es ist nicht so, dass ich mich entscheide, die Aufgabe nicht zu erledigen. Mein Gehirn hindert mich physisch daran, es zu tun, weil ich dafür kein befriedigendes Serotonin bekomme."

Oder, noch plastischer: Wenn man eine heiße Herdplatte sieht, dann fasst man sie nicht an. Man kann sich sagen, "Ich fasse jetzt diese Herdplatte an", aber der Impuls des Handausstreckens wird partout nicht ausgeführt, weil wir wissen, dass es wehtun würde. Wir hätten dann Schmerzen und unser Gehirn würde uns nicht belohnen, weil wir ja keine sinnvolle, wichtige Aufgabe ausgeführt haben. Wir haben eine regelrechte Barriere im Kopf: Das tut weh, dafür bekomme ich nichts, dann mache ich es auch nicht.

Diese Barriere habe ich bei Aufgaben, die für neurotypische Menschen nervig, aber dank Serotonin lohnend sind. Es ist nicht so, dass ich mich entscheide, die Aufgabe nicht zu erledigen. Mein Gehirn hindert mich physisch daran, es zu tun, weil ich dafür kein befriedigendes Serotonin bekomme.

Das Problem fängt schon bei kleinen Aufgaben an

Das betrifft komplexere Aufgaben, zum Beispiel, meine Steuer zu erledigen, aber es fängt schon bei kleineren Dingen an, zum Beispiel die Post zu öffnen, Überweisungen zu tätigen, zu putzen oder aufzuräumen. Dinge, deren Konsequenzen ich direkt erfahre, wenn es etwa unordentlich ist oder ich furchtbar Hunger habe, kann ich bewältigen, weil ich muss. Ich werde zwar nicht dafür belohnt, aber für Rumschludern werde ich direkt bestraft mit Dreck und Unordnung. Aber die Konsequenz ungeöffneter Briefe, die keine Rechnungen sind, ist nur auf lange Sicht Chaos.

"Ich schiebe die Arbeit also immer weiter vor mir her, sehe dem Berg beim Wachsen zu und die Barriere im Kopf wird immer unüberwindbarer."

Es ist absurd: Auf der einen Seite habe ich Schwierigkeiten, Impulsen nicht nachzugeben, auf der anderen ist es mir nahezu unmöglich, mich aufgrund anderer Imperative überhaupt aufzuraffen. Dadurch stauen sich unangenehme Aufgaben auf, die keine direkt wahrnehmbaren negativen Konsequenzen haben, der Berg wird immer größer und die Aussicht darauf ihn zu besteigen immer grässlicher. Ich schiebe die Arbeit also immer weiter vor mir her, sehe dem Berg beim Wachsen zu und die Barriere im Kopf wird immer unüberwindbarer.

Eine nachhaltige Lösung habe ich noch nicht gefunden

Ich habe dafür, ehrlich gesagt, noch keine Lösung gefunden. Meine Lösung ist schlichtweg die Hilfe meines Umfeldes, hauptsächlich die meiner Mutter und meines Freundes. Meine Mutter agiert mit Engelsgeduld als meine Sekretärin und freut sich über jedes Vorankommen und jeden kleinen Schritt in Richtung mehr Eigenständigkeit. Mein Freund unterstützt mich im Alltag auf mehr Arten, als ihm vermutlich selbst bewusst ist. Die Selbstverständlichkeit, mit der er Aufgaben im Haushalt übernimmt und mich an Dinge erinnert, ist rührend und ich gebe mir viel Mühe, ihn im Gegenzug zu unterstützen, wann immer es mir möglich ist.

Vielleicht ist das der Trick: Ich habe diese Tätigkeiten an einen Menschen delegiert, der mir sehr wichtig ist und mir ist daran gelegen, ihr so wenig dieser Arbeit wie möglich aufzubürden. Manchmal bringt mich dieses Bedürfnis dazu, selbst tätig zu werden. Die Belohnung ist dann, dass ich mein Umfeld nicht belastet habe. Möglicherweise kann ich mein ADHS so auf lange Sicht irgendwann austricksen. Aber bis dahin bin ich einfach dankbar für das Privileg, eine so fantastische, verständnisvolle Mutter und einen so liebe- und rücksichtsvollen Lebensgefährten zu haben. Das ist die Art von Verständnis und Hilfe, die ich allen ADHSlern wünsche.

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