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Rassistischer Angriff auf 17-Jährige Dilan S. – Warum hier Zivilcourage fehlte

Dilan S. wurde mitten auf einer belebten Straße zusammengeschlagen. Niemand hat ihr geholfen.
Dilan S. wurde mitten auf einer belebten Straße zusammengeschlagen. Niemand hat ihr geholfen.Bild: Screenshot / Instagram
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"Gleichgültigkeit, Bequemlichkeit und Desinteresse" – warum im Fall Dilan Zivilcourage fehlte

15.02.2022, 10:34
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Am vergangenen Samstag wurde eine junge Berlinerin an einer Trambahnhaltestelle von sechs Menschen angegriffen und verprügelt.

Wie konnte es zu einer Situation wie dieser kommen? Und was kann man als Zeuge oder auch als Opfer in so einem Krisenfall tun? watson hat mit einem Experten von der Polizei und zwei Trainern für Zivilcourage über diese Themen gesprochen.

Der Fall der 17-jährigen Schülerin Dilan S. schockiert in mehrfacher Hinsicht:

Dass eine solche Gewalttat aus rassistischen Motiven überhaupt geschieht. Dass viele Medien der Schülerin, aufgrund einer falschen Polizeimitteilung, sofort bereitwillig attestierten, sie hätte keine Maske getragen und damit der Tat ein falsches Motiv lieferten. Dass Dilan damit ganz nebenbei noch in die Ecke der "Maskenverweigerer" gestellt wurde.

Und dass an diesem Samstagabend an der Haltestelle in der belebten Straße in Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg niemand bereit war, einer jungen Frau zur Seite zu stehen, die vor aller Augen bedrängt, beleidigt und getreten wurde.

"Obwohl die Station voll war und auch auf der gegenüberliegenden Seite viele Menschen standen, hat niemand geholfen. Es waren so viele Leute da."
Schülerin Dilan S. gegenüber watson

Auch als Dilan auf der Suche nach Zeugen die Menschen vor Ort ansprach, bekam sie kaum Hilfe. Im Gegenteil, ein Mann habe sie ausgelacht und als "billiges Miststück" beleidigt. So schilderte sie gegenüber watson die Situation.

"Auf meiner Seite der Straßenschienen war gerade eine Tram abgefahren, weshalb alle Leute weg waren. Deshalb bin ich schnell zur anderen Seite gelaufen, weil dort auch gerade die Bahn einfuhr und habe laut geschrien: 'Wer kann mir eine Zeugenaussage machen? Wer kann mir helfen?' Aber niemand, wirklich niemand hat irgendwie was gesagt. Ich musste mir anhören, man habe nichts gesehen.'"

Nur eine einzige Frau sei von sich aus auf Dilan zugegangen und habe ihr angeboten, als Zeugin auszusagen.

"Einen habe ich wirklich angebettelt, habe meine Hände zusammengedrückt und wäre fast auf die Knie gegangen. Ich habe geweint und ihn um Hilfe gebeten, dass er mir seine Personalien gibt."

Zivilcourage ist ein recht abstrakter Begriff. Was versteht man in der Realität darunter?

Der Begriff Zivilcourage bedeutet wortwörtlich "Bürgermut", man könnte auch sagen „Alltagsmut“, denn er begegnet uns fast täglich in verschiedenen Formen und Situationen, und wird jedem Menschen im Grunde ständig abverlangt.

Zivilcourage kann in Form einer öffentlichen Äußerung stattfinden, die humane und demokratische Werte vertritt oder verteidigt, ohne Rücksicht auf eventuelle Folgen. Und er beschreibt das mutige Verhalten von Menschen, die in Aktion treten, um anderen Menschen in gefährlichen Situationen zur Seite zu stehen.

Kann wirklich jeder Mensch in jeder Situation Zivilcourage beweisen? Was wenn ich selbst Angst habe oder mich schwach fühle?

Silke Gorges, Sprecherin des Bundesnetzwerks Zivilcourage, sagt zu watson: "Niemand soll zum Helden werden. Der helfende und engagierte Mensch kann seine Kräfte einschätzen und zeigt keinen Heldenmut, der ihm selbst schaden kann."

Silke Gorges ist Sprecherin des Bundesnetzwerks Zivilcourage, einer Interessensgemeinschaft, die sich für eine respektvolle und zivilcouragierte Gesellschaft stark macht.
Silke Gorges ist Sprecherin des Bundesnetzwerks Zivilcourage, einer Interessensgemeinschaft, die sich für eine respektvolle und zivilcouragierte Gesellschaft stark macht.bundesnetzwerk zivilcourage / Christine Mahl

Auch Menschen, die sich in einer unerwarteten Situation wiederfinden, die sie selbst verängstigt oder in welcher sie sich unterlegen fühlen, können etwas tun. Dazu gehören, so Silke Gorges, die selbst auch Trainerin für Zivilcourage ist, ganz einfache Dinge:

"Mit dem Handy die Polizei informieren (oder Security, Bahnpersonal, etc.). Andere Menschen auf die Situation aufmerksam machen und zur Hilfe auffordern. Grundsätzlich rundherum Aufmerksamkeit erzeugen. Etwas zur Ablenkung, Irritation oder Abschreckung tun. Sich mit anderen Menschen verbünden und Solidarität zeigen. Eine Situation beobachten, fotografieren, filmen oder sonstwie dokumentieren und als Zeuge aussagen. Empathie für das Opfer haben und in der Nähe bleiben."

Auch Ernst Nieland, Zivilcourage-Trainer der Stiftung muTiger, betont gegenüber watson: "Mut hat nichts mit Übermut zu tun. Also das wäre genau der falsche Weg, sich irgendwo blind in eine Situation zu begeben. Das macht wenig Sinn. Sondern wir müssen die Situation erkennen und klar wissen: 'Hier läuft was falsch'. Also ich sollte versuchen, mich im Rahmen meiner eigenen Möglichkeiten helfend einzubinden."

Ernst Nieland ist Master-Trainer der muTiger-Stiftung für mehr Zivilcourage.
Ernst Nieland ist Master-Trainer der muTiger-Stiftung für mehr Zivilcourage. bild: Enrst nieland/muTiger

Auch die Polizei gibt im Rahmen ihrer Initiative "Aktion Tu was" Verhaltenstipps für den Ernstfall. Dazu gehören diese Punkte:

  1. Ich helfe, ohne mich selbst in Gefahr zu bringen
  2. Ich fordere andere aktiv und direkt zur Mithilfe auf
  3. Ich beobachte genau und präge mir Täter-Merkmale ein
  4. Ich organisiere Hilfe unter Notruf 110
  5. Ich kümmere mich um Opfer
  6. Ich stelle mich als Zeuge zur Verfügung

Warum kommt es dennoch so oft dazu, dass Menschen nicht helfend eingreifen?

Wenn Zivilcourage mit so einfachen Maßnahmen umzusetzen ist und klare Regeln für den Selbstschutz bestehen, warum kommt es dann oft, wie im aktuellen Fall von Dilan S. dazu, dass niemand vor Ort helfend eingreift oder dem Opfer zur Seite steht?

Kriminaloberrat Harald Schmidt, Geschäftsführer der Polizeilichen Kriminalprävention der Länder und des Bundes, sagt auf Nachfrage von watson:

"Gleichgültigkeit, Bequemlichkeit und Desinteresse am Schicksal des Nächsten sowie Unkenntnis über die richtige Art der Hilfe sind Gründe dafür, dass andere in Notsituationen nicht zu Hilfe kommen. Es gibt auch viele Menschen, die schlicht unsicher sind, wie sie gefahrlos für sich selbst helfen können. Vor allem, wenn sie sich gegen eine ganze Gruppe von Menschen zur Wehr setzen sollen. Das ist im Ernstfall keine einfache Entscheidung."

Im aktuellen Fall seien vermutlich Unsicherheit, Angst um sich selbst und die Angst vor einer Gruppe zusammengekommen.

28.05.2018, Berlin: Ein Mann laesst ein Smartphone auf den Boden fallen.
Nicht nur die Angst vor persönlichen, auch die vor wirtschaftlichen Schäden hält Menschen vom Helfen ab.Bild: dpa Themendienst / Christophe Gateau

Ein weiterer wichtiger Punkt für unterlassene Hilfe ist die Befürchtung, persönlichen Schaden davon zu tragen, sagt Zivilcourage-Trainer Ernst Nieland.

Neben der Angst, selbst Opfer körperlicher Gewalt zu werden, spiele auch die Angst vor wirtschaftlichen Schäden eine Rolle:

"Zum Beispiel das Zerreißen der Garderobe, das Wegnehmen des Handys. Und natürlich, auch das ist nicht zu verachten: Der Zeitverlust, wenn Sie sich in so eine Situationen hineinbegeben. Sie werden als Zeuge vernommen und die Sache kommt hinterher vielleicht vor Gericht. Das sind alles Dinge, die viele Menschen einfach nicht machen wollen."

Was viele nicht wissen: Personen, die sich im Interesse der Allgemeinheit besonders einsetzen, sind grundsätzlich nach Paragraph § 2 SGB VII gesetzlich unfallversichert, zum Beispiel wenn sie bei Unglücksfällen Erste Hilfe leisten oder sich persönlich zum Schutz widerrechtlich Angegriffener einsetzen.

Helfen, ohne sich selbst zu gefährden

Umgekehrt ist es laut Kriminaloberrat Harald Schmidt auch wichtig zu wissen: "Wir alle sind von Gesetzes wegen verpflichtet, bei einer Straftat im Rahmen unserer Möglichkeiten einzugreifen. Jeder von uns trägt Verantwortung dafür, dass das Zusammenleben in unserer Gesellschaft friedlich und zivilisiert verläuft. Deshalb ist auch jeder gefordert, selbst als Zeuge und Helfer aktiv zu werden."

Ernst Nieland fasst die Kernbotschaft seiner Trainings als künftigen Handlungsleitfaden für die Teilnehmer so zusammen: "Immer getreu des Wahrspruches: ich will helfen, ich kann helfen und werde nach meinen Möglichkeiten helfen und dabei den Selbstschutz beachten. Nur wenn ich selbst unbeschadet bleibe, kann ich anderen helfen."

Auch Silke Gorges vom Bundesnetzwerk Zivilcourage betont gegenüber watson die Verantwortung des Einzelnen in Gefahrensituationen wie im Fall von Dilan S.:

"Entscheidungen zu treffen, welche Hilfe erforderlich ist und dann zu handeln sind eine Verpflichtung in unserer Gesellschaft. Jeder kann irgendetwas tun. Wer nichts tut, macht sich unter Umständen strafbar und wir wissen aus Studien, dass diese Menschen oft noch lange Zeit unter ihrem Nichthandeln gelitten haben."

Sie stellt den Deutschen kein sehr gutes Zeugnis im "Miteinander" aus und sieht hier Luft nach oben:

"Aus unserer Sicht ist feststellbar, dass eine fehlende Streitkultur und der respektlose Umgang miteinander, im Netz wie auch im direkten Miteinander, in Deutschland vorhanden ist."
Silke Gorges, Sprecherin des Bundesnetzwerk Zivilcourage

Je mehr Menschen vor Ort, desto weniger Helfer

Das klingt paradox, und doch ist es ein bekanntes Phänomen. Derjenige, der eine Gewaltsituation beobachtet oder erlebt, muss zuerst für sich persönlich Verantwortung übernehmen, um eingreifen zu können.

Zivilcourage-Expertin Silke Gorges erläutert diese Art von Gruppendynamik für watson: "Oft wird dabei die Verantwortung auf andere übertragen, weil man meint, dass der andere besser qualifiziert zu sein scheint. Das Verantwortungsgefühl nimmt in der Regel ab, je höher die Anzahl der Zuschauer ist. Dieses Phänomen nennt man auch Verantwortungsdiffusion."

Dilan hat alles richtig gemacht

Polizist Harald Schmidt, bescheinigt der Schülerin Dilan, in ihrer Situation instinktiv richtig gehandelt zu haben, wenn auch leider ohne Erfolg:

"Die Betroffene hat, ohne alle Einzelheiten zu kennen, zunächst alles richtig gemacht und direkt um Hilfe gebeten. Dies sollte jede und jeder in einer Notsituation tun. Als Polizei empfehlen wir, Menschen direkt anzusprechen. Beispiel: Sie, mit der roten Jacke, helfen Sie mir. Und Sie, mit dem Hut, helfen Sie uns. Je mehr Menschen aktiviert werden, umso mehr eilen in der Regel zu Hilfe."

Auch Ernst Nieland trainiert die persönliche Ansprache mit den Teilnehmern in seinen Kursen. "Direkte Ansprache, Ich-Botschaften, dann haben Sie eventuell die Chance, dass Ihnen jemand hilft."

Was kann man als Opfer in der akuten Situation tun?

Grundsätzlich gilt: Jeder kann ein Opfer von An- oder Übergriffen werden. Daher ist es wichtig, achtsam und mit offenen Augen und Ohren durch die Welt zu gehen und sich für mögliche Gefahrensituationen zu sensibilisieren.

Im konkreten Fall von Dilan, die am Samstagabend vermutlich nichtsahnend in die Trambahn einstieg, klingt das schwierig. Denn woher hätte sie wissen sollen, wie viel Gewaltpotential hinter den Menschen steckte, die sie anpöbelten? Hätte sie auf deren Provokation lieber nicht antworten sollen, ihre Meinung für sich behalten? Silke Gorges meint dazu:

"Natürlich ist es mutig, sich direkt verbal Ungerechtigkeiten entgegenzustellen. Dabei ist aber die Situation, in der man sich befindet, auf mögliche Risiken und Gefahren einzuschätzen. Wichtige Fragen hierbei können sein: Wo befinde ich mich? Wer ist mein Gegenüber? Was traue ich mir zu? Sind Alkohol oder Drogen im Spiel? In welchem Umfeld befinden wir uns?"

Ob die Angreifer im Fall Dilan zum Zeitpunkt des Vorfalls bereits alkoholisiert waren, bleibt Spekulation. Bei Ihrer späteren Festnahme waren sie es laut Polizeiangaben jedenfalls. Auch die Polizei rät dazu, jegliche Provokation zu vermeiden, generell auf die Kommunikation zu achten:

"Wer selbst in eine solche Notlage gerät, sollte die Täter auf keinen Fall Duzen. Dann könnten Umstehende einen privaten Konflikt vermuten", so Kriminaloberrat Harald Schmidt gegenüber watson.

Sich bei rassistischen Angriffen mit Worten wie "Ich bin deutsch, habe einen deutschen Pass" zur Wehr zu setzen, sei für Rechtsradikale nur eine weitere Provokation und fördere nur deren Wut und Hass, so Trainer Ernst Nieland. Leider sei das nicht zielführend.

Er würde für einen Konfliktbeginn wie im Fall Dilan, eine Pöbelei an einem öffentlichen Ort, diesen Rat geben: "Wenn es noch am Anfang ist und ich habe die Möglichkeit, so eine prekäre Situation zu veranlassen, sollte ich davon Gebrauch machen."

Dilan ist nicht weggelaufen. Sie hat als Opfer mehr Zivilcourage bewiesen, als alle, die ihr hätten helfen sollen. Nicht nur, weil sie den Tätern ihre Meinung sagte und dafür verprügelt wurde. Nicht nur, weil sie eigentlich alles richtig gemacht hat.

Sondern weil sie, in einem Akt der Selbstermächtigung, all den kursierenden Fehlmeldungen mit ihrem Instagram-Video etwas entgegengesetzt und die Öffentlichkeit gesucht hat.

Ohne ihre persönliche Schilderung und Richtigstellung der Vorgänge und die vielfältige Reaktion darauf in den sozialen Medien wäre dieser Fall wohl einer von vielen unbekannten in der Polizeistatistik geblieben.

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