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Fahrradunfälle in Berlin - Gründe und mögliche Maßnahmen dagegen

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In Berlin gab es in der ersten Hälfte dieses Jahres bereits neun Fahrradtote. Neue Verkehrsregeln könnten weitere Unfälle verhindern.Bild: iStockphoto / Toa55
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Ohne Helm, aber mit Air-Pods: Fahrlässiges Radfahren begünstigt Unfälle

19.10.2021, 14:0823.10.2021, 10:48
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In Berlin ist das Fahrrad das grüne Verkehrsmittel der Wahl. Eltern, die ihre Kinder mit dem Fahrradanhänger in die Kita fahren. Hunde in Lastenboxen, die sich von ihren Besitzern durch den Stadtverkehr chauffieren lassen. Dazwischen Rennradfahrerinnen, die mit ordentlich Tempo an den anderen Radfahrern und Autos vorbei zischen. Das ist ein typisches Bild im morgendlichen Berliner Verkehr. Bei der Fülle an Verkehrsteilnehmern und Vehikeln kommt es auch häufig zu Unfällen.

Viele davon ließen sich jedoch mit leicht umsetzbaren Maßnahmen vermeiden. Sowohl seitens der Verkehrsteilnehmer als auch von der Politik, die die Weichen für mehr Sicherheit Verkehr stellen sollte. Was man umsetzen könnte und woran es hakt, hat watson überprüft.

"Hätte ich keinen Helm getragen, wäre ich tot gewesen."
Martin, 31

Martin, 31 Jahre alt, ist gebürtiger Mannheimer und lebt seit 9 Jahren in Berlin. Er berichtet, wie ihn bei seiner Fahrt zum Berliner Office im letzten Jahr ein Auto erfasst hat. Bis heute muss er Übungen für sein Bein machen, das nach dem Unfall gebrochen war. Der plötzliche Zusammenstoß mit dem Kraftfahrzeug habe ihn nachhaltig traumatisiert, sodass er auch heute noch eine wöchentliche Behandlung bei einer Psychologin wahrnimmt. Zu dem damals flüchtigen Autofahrer äußert er sich emotional stark ergriffen.

"Letztes Jahr im März bin ich wie jeden Morgen auf dem Fahrrad zur Arbeit gefahren. In einer Seitenstraße kam ein Auto aus der Einfahrt geschossen und hat mich und das Rad erwischt. Der Fahrer ist geflüchtet. Abgesehen von dem gebrochenen Bein, den schmerzhaften Prellungen und dem Fahrradschaden habe ich einen Schock erlitten. Hätte ich keinen Helm getragen, wäre ich tot gewesen. Auch ein halbes Jahr nach dem Unfall kann ich nicht ohne Bedenken auf’s Rad steigen. Autofahrer wie diese gehören bestraft.“
Martin, 31, Fahrradfahrer in Berlin

Die "Noise Cancelling"-Kopfhörer sind eine Einladung für Unfälle

Eine Einteilung in "gute Fahrradfahrer" und "böse Autofahrer" wäre aber zu einfach: Der Musiker Olli Schulz erzählt in der letzten Podcast-Folge von Fest und Flauschig, seinem Unterhaltungs-Podcast mit Jan Böhmermann, selbst von einem gefährlichen Zusammenstoß mit einer Radfahrerin, die die "Noise Cancelling Funktion" bei ihren Kopfhörern aktiviert hatte. Diese sei mit seinem Auto kollidiert, da sie ihn "einfach nicht gehört" habe. Er appelliert im Podcast öffentlich an die Fahrradfahrer, diese Funktion im Straßenverkehr nicht zu nutzen. Das sei im Straßenverkehr eine Einladung für jegliche Art von Unfall.

Autos brauchen für den Straßenverkehr einen TÜV, Fahrräder hingegen müssen auf eigene Verantwortung gewartet werden. Doch neue Fahrräder sind nicht billig und gerade für junge Menschen wie Auszubildende oder Studenten, die noch über weniger Geld verfügen, ist es attraktiv, ein Fahrrad gebraucht und damit günstig zu erwerben. Dabei ist es ratsam, die Ware noch einmal selbst in der Werkstatt auf Funktionalität und Sicherheit überprüfen zu lassen. Das zeigt auch das Beispiel von Sina, 29, die watson berichtet, dass sie nur mit Glück einem Fahrradunfall entkommen konnte.

"Letztes Jahr habe ich mir ein Fahrrad im Internet gekauft. Ein Marken-Rennrad, das nur 200 Euro gekostet hat und super aussah. In Berlin zahlt man für neue Fahrräder ansonsten sehr hohe Preise. Ich habe das Fahrrad nicht in nochmal gecheckt und bin stattdessen schnell und viel damit durch die Stadt gefahren. Als ich mit dem Rad eine Kreuzung überqueren wollte, fing es heftig an zu eiern, sodass ich das Gleichgewicht verlor und vor den wartenden Autos mitsamt Fahrrad umgefallen bin. Später habe ich gesehen, dass im Vorderrad ein Achter war, der bereits dagewesen und sich mit der Zeit verstärkt haben muss. Ich kann von Glück sagen, dass mir der Sturz nicht im laufenden Verkehr passiert ist und ich nicht mehr hätte reagieren können."
Sina, 29, Fahrradfahrerin in Berlin

1,5 Millionen Wege werden, statistisch gesehen, täglich mit dem Rad in Berlin zurückgelegt. Jeder siebte Weg im Stadtverkehr wird durch Rad fahrende Personen bestritten. Von den 17.394 Verkehrsteilnehmenden im Jahr 2016 waren 5.273 Radfahrerinnen und Radfahrer. Das entspricht gut 30 Prozent, also einem Drittel der Verkehrsteilnehmer.

Die Hälfte aller Fahrradunfälle wurde letztes Jahr von rechtsabbiegenden LKWs verursacht

Nach Angaben des ADFC (Allgemeiner Deutscher Fahrrad-Club Berlin e.V.) gab es in 2021 bereits neun tödliche Fahrradunfälle in Berlin. Auffällig ist dabei, dass sich die Unfälle vor allem auf das Berliner Zentrum konzentrieren. Zuletzt starb eine 29 Jahre junge Frau, die im Wedding mit dem Fahrrad unterwegs war. Sie wurde von einem rechtsabbiegenden LKW erfasst. Leider ist dieses Beispiel nur eines von vielen. Grundsätzlich weisen viele Unfälle Verläufe mit schweren Verletzungen, sowohl physischer als auch psychischer Art, auf. Unfallopfer tragen nicht nur Knochenbrüche oder blutende Wunden, sondern auch traumatische Schäden davon.

Dass die Hälfte aller Fahrradunfälle in Berlin in den letzten Jahren von rechtsabbiegenden LKWs verursacht wurde, gibt einen ersten Hinweis darauf, wie die Unfälle zustande kommen. Und an welcher Stelle man ansetzen müsste, um diese vermeiden. Nämlich bei der Verkehrspolitik. Die einzige Partei, die bislang einen Fokus auf den fahrradfreundlichen Straßenverkehr gelegt hat, sind die Grünen. Da bei der Wahl am 24. September die Berliner und Berlinerinnen mehrheitlich für die SPD gestimmt haben, liegt die Hoffnung der Grünen nun in den Koalitionsverhandlungen mit den Sozialdemokraten. Mit einer Koalition könnten notwendige Maßnahmen aus dem grünen Parteiprogramm umgesetzt werden, um den Verkehr in den Städten sicherer zu gestalten.

Der Verein Changing Cities kritisiert an der bisherigen bundes- und landesweiten Politik, dass nichts an den Bedingungen des Straßenverkehrs geändert werde und die aktuelle Verkehrssituation Unfälle begünstige. Der Verein fordert zum Beispiel eine durchgängige 30er-Zone im Stadtkern, damit Autofahrer bei verringertem Tempo rechtzeitig reagieren können oder es im Idealfall gar nicht erst zu brenzligen Situationen kommt. Auch eine Ampelschaltung, die kreuzende Radfahrer und rechtsabbiegende Fahrzeuge voneinander trennt, ist nach Changing Cities eine passende Lösung für das Problem der Unfälle aufgrund rechtsabbiegender Fahrzeuge.

Das Tragen eines Helms kann entscheidend für einen glimpflichen Unfallausgang sein

Die notwendigen politischen Maßnahmen paaren sich also mit den Problemen, welche von Seiten der Radfahrerinnen und Radfahrer herrühren. Verkehrsuntaugliche Fahrräder, das Nutzen von Kopfhörern, vor allem jene mit "Noise Cancelling"-Funktion, die die Umgebungsgeräusche ausblenden, und fehlende Helme machen Unfälle zum einen wahrscheinlicher und können zum anderen auch den Schweregrad des Unfallausgangs erhöhen.

Die Erfahrungen von Seiten der Unfallchirurgie belegen, dass das Tragen eines Helms beim Radsport entscheidend für einen glimpflichen Unfallausgang sein kann. In letzten Jahren stieg die Produktion an trendigen Modellen für Fahrradhelme an, und immer mehr Fahrradfahrer tragen Helm im Verkehr. Dennoch empfinden noch viele Fahrradnutzerinnen und -nutzer einen Helm als nicht notwendig oder lästig. Wenn es zum Unfall kommt, kann das Tragen eines Helms aber überlebenswichtig sein.

Dies bestätigt Andreas Dahmen, Arzt in einer Gemeinschafts-Praxis für Unfall-Orthopädie in Berlin. Fahrradfahrerinnen und Fahrradfahrer seien extrem häufig in Unfälle involviert. "Wenn ein Helm getragen wird, fallen die Unfälle in jedem Fall wesentlich leichter aus", so der Arzt gegenüber watson. Im Ernstfall könne der Helm hier einen Unterschied von Leben und Tod bedeuten. Die häufigsten Verletzungen bei Fahrradunfällen würden Schulter und Hände betreffen, da der Mensch reflexartig versucht, sich mit diesen Körperteilen zu schützen. "Und alles, was an der Schulter passiert, ist auch gleich wieder nah am Kopf."

Früher Ärztin, heute Peloton-Trainerin: "Wenn ich nerve, war der Schweinehund zu groß"

Charlotte Weidenbach ist Ärztin – und hat sich nach dem Medizinstudium für einen ungewöhnlichen Karriereweg entschieden: Sie steht nicht als Frau Dr. Weidenbach in einer Klinik, sondern ist Fitnesstrainerin vor der Kamera.

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