Leben
Analyse

Grippe- und Coronawelle zur gleichen Zeit: Wie gefährlich ist die "Twindemic" wirklich?

Husten, Schnupfen, Müdigkeit – ist das die Grippe oder doch schon Corona?
Husten, Schnupfen, Müdigkeit – ist das die Grippe oder doch schon Corona? Bild: iStockphoto / Ridofranz
Analyse

Grippe- und Coronawelle zur gleichen Zeit: Wie gefährlich ist die "Twindemic" wirklich?

07.10.2021, 14:41
Mehr «Leben»

Der Winter kommt – und mit ihm nicht nur die Gefahr eines neuen Hochs an Corona-Infektionen, sondern parallel dazu auch einer neuen Grippewelle. "Twindemic" wird dieses Phänomen zweier paralleler Viruswellen in Amerika genannt, vor dem nun auch das RKI warnt. Ende September veröffentlichte das Robert-Koch-Institut seine aktualisierte Control-Covid-Strategie, in der es auch die Doppelinfektion mit Coronavirus und Grippevirus in den Blick nimmt.

RKI-Chef Lothar Wieler verglich das Grippe- und das Coronavirus wegen der hohen Ansteckungsgefahr für Risikogruppen. In der Bundespressekonferenz vergangenen Mittwoch sah er zwischen beiden Viren viele Gemeinsamkeiten. Wieler warnte: "Wenn viele Covid-19- und viele Grippe-Erkrankte gleichzeitig auftreten, dann werden die Krankenhäuser massiv belastet." Deshalb müssten die Schutzmaßnahmen fortgesetzt werden.

"Das Gesundheitssystem
ist die ganze Zeit schon überlastet, es funktioniert
nur, weil die Pflegekräfte emotional erpressbar sind"
Intensivpfleger Ricardo Lange

Die Kapazitäten der Krankenhäuser befinden sich aber ohnehin, und auch unabhängig von pandemiebedingten Faktoren, vielerorts bereits im angespannten Bereich. In Berlin streiken Beschäftigte der Kliniken der Charité, des Betreibers Vivantes und den Vivantes-Tochterunternehmen nun schon seit 30 Tagen, wegen Überbelastung aufgrund des mangelhaften Gesundheitssystems.

Viele Pflegekräfte beklagen nicht nur die andauernde Überlastung, sondern auch die mangelnde Unterstützung aus der Politik. Pfleger Ricardo Lange forderte bei watson die Politik auf, das Gesundheitssystem endlich zu verbessern: "Das Gesundheitssystem ist die ganze Zeit schon überlastet, es funktioniert nur, weil die Pflegekräfte emotional erpressbar sind. Nur, weil die Pflegekräfte immer wieder aus dem Urlaub oder der Freizeit zurückkommen und einspringen."

An der Charité wurde heute ein Einigungspapier zum Tarifvertrag erreicht, an den anderen Kliniken geht der Streik weiter. Gesundheitsminister Spahn sagte ebenfalls, schon "vor Corona" sei das Gesundheitssystem an seine Grenzen gekommen. Es habe "milde Grippewellen und sehr heftige Grippewellen mit sehr starker Belastung der Intensivstationen" gegeben. Intensivpfleger Ricardo Lange sagt gegenüber watson: "So oder so ist die Situation auch außerhalb Corona schon blöd. Und Corona passt einfach nicht mehr oben drauf. Der Rucksack, den die Pflegekräfte tragen, ist voll und mehr passt da einfach nicht rein."

watson hat mit dem Epidemiologen Markus Scholz darüber gesprochen, wie groß die Gefahr einer "Twindemic" tatsächlich ist.

Der Epidemiologe sagt gegenüber watson, es gebe natürlich die Gefahr "einer Belastung des Gesundheitssystems durch zwei unterschiedliche aber gleichzeitig auftretende Infektionswellen". In der Regel infiziere man sich nur mit einem Virus, trotzdem warnt Scholz davor "dass sogenannte Superinfektionen auftreten können", also die gleichzeitige Infektion mit dem Grippe- und dem Coronavirus. "Das betrifft auch alle weiteren Erreger von Atemwegsinfektionen. Menschen mit einem geschwächten Immunsystem, auch im Zuge einer Infektion mit einem anderen Erreger, sind hiervon betroffen."

"Um eine starke Grippewelle zu vermeiden, sollten sich möglichst viele gegen Grippe impfen lassen, vor allem aber die Risikogruppen."
Leipiziger Epidemiologe Markus Scholz gegenüber watson

Der Epidemiologe plädiert deshalb zur Grippeimpfung, um eine doppelte Belastung des ohnehin überlasteten Gesundheitssystems zu vermeiden: "Um eine starke Grippewelle zu vermeiden, sollten sich möglichst viele gegen Grippe impfen lassen, vor allem aber die Risikogruppen", sagt er gegenüber watson. Dieses Jahr sei die Gefahr einer "Twindemic" größer, da es keinen Lockdown mehr gibt, der zu weniger Kontakten mit anderen Menschen führt. "In der letzten Saison 2020/21 ist die Grippewelle ausgefallen, da es noch starke Restriktionen aufgrund von COVID-19 gab. Für die Saison 2021/22 ist zu befürchten, dass die Grippewelle wieder stärker ausfällt." Genau könnte man diese Gefahr im Moment aber noch nicht einschätzen.

Auch die Corona-Impfung schützt derzeit nicht ausreichend vor der Gefahr einer Doppel-Viruswelle, da die Impfquote in Deutschland dafür noch zu niedrig ist.

Dazu sagt Epidemiologe Scholz:

"Die Impfquote beziehungsweise Immunisierung gegen Covid-19 ist in Deutschland im Moment noch zu niedrig. Wir erwarten hier für die Herbst/Winter-Saison 2021/22 deshalb nochmal hohe Fallzahlen. Diese allein würden nach unserer Einschätzung nicht zu einer Überlastung der Intensivstationen führen. Das könnte anders sein, wenn gleichzeitig auch viele Grippefälle auftreten, von denen auch viele intensivpflichtig werden."

Gesundheitsminister Spahn appelliert an die Vernunft der Menschen, sich gegen Grippe impfen zu lassen. In der Bundespressekonferenz sagte er auf watson-Anfrage: "Wir haben es letztes Jahr miteinander geschafft, dass so viele Menschen in Deutschland sich haben impfen lassen wie nie zuvor, über 22 Millionen. Diese Größenordnung können wir wieder schaffen." Die allermeisten Dosen würden für die Grippe in diesem Jahr schon bereitstehen.

"Wir haben es letztes Jahr miteinander geschafft, dass so viele Menschen in Deutschland sich haben impfen lassen wie nie zuvor, über 22 Millionen. Diese Größenordnung können wir wieder schaffen."
Gesundheitsminister Jens Spahn gegenüber watson in der Bundespressekonferenz

Man könne nicht sicher sagen, wie die Lage sich entwickeln werde. "Aber allein das Risiko, dass es zu einer zu starken Belastung kommt, sollte Anreiz genug sein", sagte der Gesundheitsminister gegenüber watson während der Bundespressekonferenz. RKI-Chef Wieler stimmt der Aussage Spahns zu und ergänzt: "Aber es geht nicht nur um schwere Krankheitsverläufe. Es geht auch darum, gesund zu bleiben. Wir wollen, dass möglichst viele Menschen gesund bleiben, dass möglichst viele gar nicht erst erkranken."

Plötzlich zu dritt: Warum watson die Chefredaktion vergrößert
Swen ist Chefredakteur von watson. Er findet seinen Job so gut, dass er auch noch eine Kolumne über ihn schreibt. Hier berichtet er von schönen, traurigen und kuriosen Erlebnissen.

Die meisten Beobachtungen und Erlebnisse in meiner Kolumne sind anonymisiert. Du liest schließlich watson und schaust nicht Reality-TV.

Zur Story