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Interview

Therapie: Wie ein traumatisierter Türsteher Heilung fand

Philipp Ruland, Traumatherapeut und Autor von "Schuld, Scham & der ganze Scheiß", Saarland, Türsteher, Jugendgewalt, sexueller Missbrauch
Sich Traumata zu stellen, fordert auch starken Menschen viel Kraft ab, weiß Philipp Ruland. Bild: privat / Sara Emosivwe
Interview

Früher Türsteher, heute Therapeut: "Suchte Schutz im Männlichkeitsgehabe"

Philipp Ruland verbrachte seine Jugend zwischen Boxring und Straße und flüchtete sich in das Nachtleben und aggressives Gehabe. Doch hinter dem Mann, der so stark wirkte, verbarg sich ein Kindheitstrauma. Eine Geschichte von Machos, Missbrauch und Heilung.
20.06.2025, 19:0720.06.2025, 19:07
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Philipp ist inzwischen Therapeut und sieht Fälle wie seinen eigenen ständig: Jungs, die versuchen, sich mit Gewalt zu profilieren, weil sie selbst verletzt wurden.

Warum es so wichtig ist, die Muster und Traumata dahinter zu erkennen, erklärt der Saarländer im Bestseller "Schuld, Scham und der ganze Scheiß" (Goldegg Verlag), der seine eigene Biografie als Vorlage nimmt.

Watson sprach mit Philipp Ruland über misshandelte Kinder, die zu enthemmten Straßenschlägern werden, Feiglinge und die Psychologie der Nacht.

watson: Du warst Boxer und Türsteher, gleichzeitig Student aus einer Juristenfamilie. In welche Welt hast du besser gepasst?

Philipp Ruland: Ich gehörte in beide und war doch überall "falsch". In der Jurawelt war ich zu hart für einen Akademiker. Aber auf der Straße blieb ich immer der Junge aus gutem Hause. Ich fühle mich bis heute fehl am Platz, egal wo ich bin.

Wie sah dein Lebensweg aus?

Kurvenreich, da ich lange nicht begriff, was mit mir los war. Ich suchte Schutz in Männlichkeitsgehabe und Alkohol, weil ich mich hilflos fühlte, begann zu boxen und landete so im Nachtleben. Bis ein schlimmer Vollsuff mich zur ersten Therapie trieb.

"Erst da kam alles hoch – meine Oma hatte mich sexuell missbraucht."

Wie viele Therapien hast du gebraucht, um zu begreifen, was Ursprung deiner Ängste war?

Die erste Therapie begann mit etwa 20 Jahren, während ich weiter an der Tür arbeitete und Jura studierte. Jahre später habe ich zu Psychologie gewechselt und bin im Rahmen der Ausbildung nochmal zur Traumatherapie gegangen, weil ich weiter schwer belastet war. Erst da kam alles hoch – meine Oma hatte mich sexuell missbraucht.

Deine Oma, die schon deine Mutter massiv misshandelte, wie du im Buch erklärst. Was hat diese Erkenntnis mit dir gemacht?

Mein Leben verändert. Ich wusste nun, wo ich ansetzen musste, entwickelte eine neue Wahrnehmung gegenüber Frauen, Intimität, einfach allem. Ich wurde friedlicher, war nicht mehr so impulsiv. Ein Gamechanger.

Wie war das Offenlegen des Missbrauchs für deine Familie?

Es hat mich meinem Bruder nähergebracht. Meine Mutter wurde nach der Veröffentlichung angefeindet. Das macht mich betroffen, weil ich meiner Mama keinen Vorwurf mache. Im Gegenteil: ich bin froh, dass unsere Mutter uns nie antat, was ihre Mutter ihr angetan hat.

Sie ist ein Cycle-Breaker.

Das ist ihr großer Verdienst. Meine Eltern haben mich nie geschlagen, beide waren liebevoll. Dass mich meine Mutter mit der Oma allein gelassen hat, das Böse nicht sehen wollte – ich denke, das war ein blinder Fleck ihres eigenen Traumas.

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Wann kamst du zur Gewalt?

Als Schulkind. Mein Bruder und ich wurden auf eine Grundschule gebracht, die verkehrsgünstig lag, auf der man aber täglich verprügelt wurde. Diese Gewalt landete bei mir auf fruchtbaren Boden, weil ich mich durch den Missbrauch eh schon so klein fühlte. Irgendwann dachte ich: "Nie wieder Opfer" und begann, die Verhaltensweisen der Stärkeren zu adaptieren.

Fiel dir das leicht?

Ich war nie ein Feigling. Aber ich hatte auch nie diese hemmungslose Brachial-Härte, die Leuten, die ganz tief im Milieu sind, eigen ist. Ich hing zwar mit diesen Jungs herum und konnte mich durchsetzen, aber ich musste mir Mut antrinken, um mich Gewalt auszusetzen.

Macht dich deine Vergangenheit zu einem besseren Therapeuten?

Es macht mich zu einem lebenserfahrenen Therapeuten, der unterschiedliche Milieus abholen kann. Ansonsten habe ich gute und schlechte Tage. Trotzdem würde ich Psychologiestudenten raten, viele Jobs zu machen – vor allem im Nachtleben, weil du dort viel über Menschen lernst.

Was denn?

Dass sich nachts viel Verletzlichkeit auftut. Da ist das Zeigen von Schönheit und Status im Club, die Sehnsucht nach menschlicher Nähe. Und nachts um drei Uhr reißt die Fassade ein und die Leute erzählen, was wirklich in ihnen vorgeht.

"Alle wirklich gefährlichen Straßenschläger, die ich jemals kennengelernt habe, waren durch die Bank misshandelte Kinder."

Erkennst du dein altes "Ich" heute an anderen jungen Männern?

Total. Wenn ich abends ausgehe und Gruppen junger "Gangster" in ihren muskulösen Männlichkeitsrüstungen sehe, erkenne ich all die Angst und Unsicherheit dahinter – so war ich ja selbst.

Wie kann man sich dort entladene Jugendgewalt stoppen?

Indem man die Ursache bekämpft. Jugend- und Straßengewalt geht fast immer von Kindern aus, die häusliche Gewalt erlebt haben und diese imitieren. Auch alle wirklich gefährlichen Straßenschläger, die ich jemals kennengelernt habe, waren durch die Bank misshandelte Kinder.

Alle?

Ich habe keinen einzigen kennengelernt, der nicht irgendwann von Gewalt zu Hause erzählt hat. Jugendgewalt und Straffälligkeit ist in hohem Maße von Trauma getrieben. Viele Opfer werden zu Tätern.

Um diesen Teufelskreis zu durchbrechen, müssten alle in Therapie.

Das Schöne ist, dass Prävention in diesem Bereich gut funktioniert. Kindererziehung hat gewaltfrei zu sein. Die Abschaffung von Prügelstrafen an Schulen war wichtig. Es gibt zudem Studien, die zeigen, dass es wirkt, wenn Eltern gezielt aufgeklärt werden, wie schädlich sich Gewalt auf die Biografie ihrer Kinder auswirkt. Viele Milieus haben sich damit noch nie befasst.

Wissen gewalttätige Menschen, dass sie ein Problem aufzuarbeiten hätten?

Tief in sich drin wissen die das alle. Ob sie sich dem stellen, kommt darauf an, wie lange ihre schlechten Lösungsstrategien funktionieren: Alkohol, bedeutungsloser Sex, Gewaltrausch. Jeder rennt vor seiner Geschichte davon. Das ist leichter als hinzugucken.

Warum konntest du Therapie annehmen?

Ich wollte ein bürgerliches Leben und wusste dank meiner Eltern auch, wie das aussehen kann. Als ich Psychologie studierte, hatte ich so viel zu verlieren, dass ich gar keinen Bock mehr hatte, mich in dieser Szene aufzureiben. Man darf nicht vergessen: Leute, die in harter Gewalt unterwegs sind, kostet das ungeheuer viel Kraft.

Wie meinst du das?

In den Zwanzigern herrscht noch die Gnade der Jugend. Aber wenn man sich 50-jährige Männer aus dem Milieu anschaut, sieht man leere, frühgealterte Gestalten. Das Leben hat für sie keine attraktiven Angebote mehr.

Du bist jetzt selbst Vater. Was hat das verändert?

Ganz viel. Ich bekam zwei Mädchen und erlebte durch sie eine tiefe Aussöhnung mit dem weiblichen Geschlecht. Der Umgang mit Frauen war für mich vorher nie ganz unbelastet, da meine Oma ja eine Täterin war. Davon abgesehen haben mir meine Töchter auch die Verletzlichkeit von Kindern nochmal so richtig vor Augen geführt.

Viele Eltern finden gar nichts Schlimmes an Ohrfeigen und Strafen.

Weil sie kein Bewusstsein für ihr eigenes Leid haben. Ich erlebe das in der Therapie. Da sitzen Leute vor mir und erzählen: "Ich hatte eine schöne Kindheit. Die paar Schläge haben mir nicht geschadet." Da sage ich nur: "Gut, kommen wir zurück zu ihren Angststörungen..."

Die sehen keine Zusammenhänge?

Nö. Diese Blindheit reicht bis in die jüngsten Generationen hinein. Viele glauben, eine psychische Erkrankung fällt vom Himmel. Doch es gibt einen Zusammenhang zwischen Biografie und Symptom.

Und wo viele Menschen mit tragischen Biografien leben, gibt es auch viele Symptome.

In Berlin kam es gerade erst zu so einer Kollision: Zwei Männer, beide polizeibekannt, begegnen sich und es eskaliert in Sekunden. Der eine ersticht den anderen und wird dann von der Polizei erschossen. Ich las das und dachte: "Zwei Menschen verhaken sich in ihren Traumata und reißen sich dabei in den Tod." Wie bitter.

Wenn man die Zeit zurückdrehen könnte – was würde man sehen?

Zwei Jungs, die große Angst haben.

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