Ende April, als die Coronavirus-Pandemie noch weitestgehend ungebremst über Europa schwappte, da machte die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) eine erstaunliche Beobachtung. Weil Krankenhäuser gerade verpflichtet worden waren, die Zahl ihrer freien Intensivplätze zentral zu melden, konnte die DIVI feststellen, dass die meisten mit Covid-19-Patienten belegten Betten im Süden und Westen Deutschlands zu finden waren und meldete daraufhin: "Im Nordosten ist die Lage noch verhältnismäßig entspannt."
Auch an den dem Robert-Koch-Institut gemeldeten Fällen ließ sich ablesen, dass in den südlichen und westlichen Bundesländern weitaus mehr Menschen mit Sars-CoV-2 infiziert waren, als im Norden und Osten. Am 1. Mai etwa hatte Bayern 42.289 Fälle gemeldet, Baden-Württemberg 31.919 und Nordrhein-Westfalen 33.058. Niedersachsen, Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein brachten es zusammen gerade mal auf 13.548 gemeldete Fälle.
Woran kann es liegen, dass sich die Menschen im Süden und Westen mehr angesteckt haben, als im Norden und Osten?
Das Institut für Weltwirtschaft in Kiel hat sich dieser Frage angenommen und als einen der Hauptfaktoren etwa die geografische Nähe einer Region zum europäischen Corona-Ground-Zero, dem Winterskisportort Ischgl in Südtirol, festgestellt. "Schon ein um zehn Prozent kürzerer Anfahrtsweg nach Ischgl, erhöht die Infektionsrate im Durchschnitt um neun Prozent", sagte IfW-Präsident Gabriel Felbermayr.
Neben geografischen Einflussfaktoren hat das IfW noch einen weiteren "bemerkenswerten Einflussfaktor" festgestellt. Offenbar hängen Corona-Ausbreitung und der Anteil der katholischen Bevölkerung in einer Region zusammen. "Die katholische Kultur scheint die Zahl der Fälle zu erhöhen – wahrscheinlich durch die vielen Karnevalsfeiern Ende Februar“, erklärte Felbermayr Ende Mai.
In der "Welt" führte der IfW-Chef nun zu den IfW-Ergebnissen aus, dass unter katholischen Menschen Karneval und Fastenzeit eine große Rolle spielten: "In Bayern heißt das, dass man kein Fleisch isst und sich stattdessen Starkbier zuführt. In katholischen Gegenden gibt es daher den Starkbieranstich, den politischen Aschermittwoch, Zusammenkünfte in Bierzelten – was die höheren Infektionszahlen bedingt." In protestantisch-geprägten Regionen hingegen halte sich "eher eine Kultur der kühlen Distanz", anders als in katholischen Regionen.
Haben vermeintlich spaßbefreite Protestanten mit ihrem Verzicht auf Fastnacht, Fastenzeit und Festzelt also dafür gesorgt, dass Corona in Norden und Osten Deutschlands weniger um sich griff?
Tobias Graßmann, Pfarrer und Dozent an der Theologischen Fakultät der Universität Göttingen, hält die Einschätzung des IfW-Chefs zunächst einmal für plausibel. "Eine grundsätzlich auf mehr Herzlichkeit ausgerichtete Mentalität, die weniger Abstand kennt und häufiger zu öffentlichen Festen zusammen kommt, die ist schon traditionell eher in den katholischen Gebieten verankert", sagte Graßmann zu watson.
Der Religionswissenschaftler schränkt aber ein, dass die von Felbermayr beschriebene Lebensart - feucht-fröhliches Beisammensein in engen Runden - "mittlerweile auch säkular geworden ist und von Menschen geteilt wird, die mit der Kirche nichts mehr oder nur wenig zu tun haben".
Will heißen: Längst kniet nicht mehr jeder, der einen Maßkrug Starkbier an die Lippen führen kann, sonntags zum Gebet. Im Gegenteil – seit Jahren kämpfen sowohl die römisch-katholische wie evangelische Kirche in Deutschland mit sinkenden Mitgliederzahlen. Zwar ist auch der Bierkonsum hierzulande seit Jahren rückläufig – der Grund dafür liegt aber, konfessionsübergreifend, in gesteigertem Gesundheitsbewusstsein.
Graßmann gibt außerdem zu bedenken, dass man nicht einfach eine Glaubensüberzeugung für Mentalitäten verantwortlich machen könne. Katholizismus und Protestantismus spielten eher als prägende Faktoren in die Gesamtkultur hinein, so der Theologe.
Was ein Mensch glaubt, ob er oder sie sich im Glauben an die Autorität des Papstes oder allein an die Bibel hält, ist also nicht allein dafür verantwortlich, wie ein Mensch denkt und handelt. Zumal die Ergebnisse des IfW auch außer Acht lassen, dass es protestantische Regionen im eher katholischen Süden gibt – und umgekehrt katholische Gegenden im eher protestantischen Norden.
Die Ergebnisse der statistischen Erhebung des IfW mögen "im Großen und Ganzen stimmen", doch gebe es etwa im bayerischen Franken evangelische Gebiete, die sich von ihren katholischen Nachbarn "nicht relevant unterscheiden", vermutet Graßmann. "Da wird auch Fasching und 'Kerwa' (Kirchweih, d. Red.) gefeiert und man hockt mit dem Bier eng beisammen. Oder es gibt katholische Enklaven im Norden, die wirken aus Süddeutschland besehen auch eher kühl."