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9-Euro-Ticket vs. Chaos auf den Straßen: Diese Chance hat die Politik jetzt

ARCHIV - 11.06.2022, Berlin: Fahrg
Es könnte so schön bleiben: Günstig und klimafreundlich den Alltag meistern und reisen mit dem Nachfolger des 9-Euro-Tickets. Bild: dpa / Fabian Sommer
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Nachfolger für das 9-Euro-Ticket: Die Politik hat eine historische Chance – und darf sie nicht verpassen

20.07.2022, 13:39
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Durch das 9-Euro-Ticket stehen der öffentliche Nahverkehr und seine klimatechnischen Vorteile im Fokus wie selten zuvor. Die Bundesregierung – und ja, auch FDP-Verkehrsminister Volker Wissing, der eher als Verfechter von Autos und Autobahnen als der Bahn gilt – hat erkannt: Das 9-Euro-Ticket ist ein "Riesenerfolg"!

"Die Zahl und Dauer von Staus ist nachweislich zurückgegangen."

Allein im ersten Verkaufsmonat des Tickets, dem Juni, sind dem Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) zufolge bundesweit rund 21 Millionen der Sonderfahrkarten verkauft worden. Für den Juli und August werden ähnliche Verkaufszahlen erwartet.

Hinzu kommt: Die Zahl und Dauer von Staus ist nachweislich zurückgegangen. Das jedenfalls zeigt eine Analyse des Verkehrsdatenspezialisten Tomtom für die Nachrichtenagentur dpa. Demnach ging das Stauniveau in 23 von 26 untersuchten Städten zurück. Tomtom-Verkehrsexperte Ralf-Peter Schäfer geht davon aus, dass dies mit der Einführung des 9-Euro-Tickets zusammenhängt.

Fassen wir das Ganze also einmal zusammen: Erstens – die Menschen kaufen das vergünstigte Ticket für den öffentlichen Nahverkehr. Und zweitens – die Leute steigen tatsächlich vom Auto auf Bus und Bahn um. Das macht sich nicht nur im Portemonnaie bemerkbar, sondern wirkt sich gleichzeitig auch noch positiv auf unser CO2-Budget aus.

Was bitte könnten wir – oder die Politik – mehr wollen?

All das wurde ja freiwillig von den Meisten umgesetzt.

"Trotz all der Zugausfälle und Verspätungen, der hoffnungslos überfüllten und teils überhitzten Wagons."

Ohne dass Menschen mühselig zum Umstieg motiviert werden müssten.

Ohne dass Parteien wie die FDP um ihre Wählerinnen und Wähler bangen müssten.

Und – das muss man leider dazu sagen: Trotz all der Zugausfälle und Verspätungen, der hoffnungslos überfüllten und teils überhitzten Wagons.

Lediglich, weil Bahnfahren mit dem 9-Euro-Ticket endlich erschwinglich geworden ist.

Weil man eben nicht jedes Mal vor dem Fahrkartenautomaten steht, und überlegt, ob eine Tageskarte für 7 Euro wirklich drin ist. Nur, weil man zum Arzt muss, zum Amt oder Geburtstag. Weil das Auto ja vielleicht sowieso vor der Tür steht, Geld kostet.

Man steht da, überlegt, wägt ab – und entscheidet sich doch für die vermeintlich günstigere Variante. Obwohl man es doch eigentlich nicht will. Obwohl man doch eigentlich weiß, wie viel besser es für das Klima ist, Bus und Bahn zu fahren.

"Das 9-Euro-Ticket macht es einem – sofern man in einer gut angebundenen Stadt und Region wohnt – leicht, die bessere Entscheidung zu fällen. Für Bus und Bahn."

Aber man fährt trotzdem nicht. Einfach, weil die Tickets so teuer sind.

Das 9-Euro-Ticket macht es einem – sofern man in einer gut angebundenen Stadt und Region wohnt – leicht, die bessere Entscheidung zu fällen. Für Bus und Bahn.

Und gegen das Auto.

Das sollte sich die Politik zu Herzen nehmen.

Und handeln. Endlich!

Nicht nur sollte sie ein Nachfolger-Modell für das 9-Euro-Ticket entwickeln. Sie sollte es auch schnellstmöglich unter die Menschen bringen. Wenn möglich also nicht erst Anfang 2023, lieber Herr Wissing, sondern gleich im Anschluss an das 9-Euro-Ticket im September.

Verkehrsminister Volker Wissing (links) nimmt das 9-Euro-Ticket von einem Klimaaktivisten entgegen.
Verkehrsminister Volker Wissing (links) nimmt das 9-Euro-Ticket von einem Klimaaktivisten entgegen.bild: picture alliance/dpa | Arne Dedert

Denn die Menschen brauchen eine finanzielle Entlastung. Vor allem mit Blick auf die steigenden Energiepreise und die hohe Inflationsrate.

Da käme ein Nachfolger des vergünstigten Tickets genau zum richtigen Zeitpunkt.

"Vielleicht also ist der Nachfolger des 9-Euro-Tickets das i-Tüpfelchen bei den Emissionseinsparungen im Verkehr."

Und dass das Modell erfolgreich ist, wissen wir auch ohne weitere Datenauswertung. Erst diese Woche hat Greenpeace Berechnungen veröffentlicht, wonach wir bei einem dauerhaften 9-Euro-Ticket oder einem Klimaticket mit ähnlicher Verlagerungswirkung zwischen zwei und sechs Millionen Tonnen CO2 jährlich einsparen könnten.

Vielleicht also ist der Nachfolger des 9-Euro-Tickets das i-Tüpfelchen bei den Emissionseinsparungen im Verkehr. Immerhin lagen die im Verkehrssektor ausgestoßenen Treibhausgasemissionen etwa drei Millionen Tonnen über der laut Klimaschutzgesetz für 2021 zulässigen Jahresmenge.

Allem voran aber sollte die Bundesregierung endlich realisieren, dass Bus und Bahn die Zukunft sind. Und auch E-Autos werden daran nichts ändern, höchstens das Angebot ergänzen und erweitern. Bedeutet: Wir brauchen ein größeres Streckennetz, eine dichtere Fahrtentaktung und mehr Verlass auf Pünktlichkeit (oder darauf, dass die Bahn überhaupt fährt).

"Das 9-Euro-Ticket bietet der Politik die historische Chance, Zukunft zu wagen – und uns alle auf die Schiene zu bringen. Besser spät als nie."

Und ja, dazu gehört auch, den Schienenverkehr zu fördern. Im Vergleich zu den rund 15 Milliarden Euro, die Jahr für Jahr in den Straßenverkehr fließen, wirken auch die 500 Millionen Euro Förderung für neue Schienen bis 2030 wie ein schlechter Scherz, rückwärtsgewandt.

Es ist Zeit für mehr politischen Mut, wenn man es denn überhaupt so nennen kann.

Wir wollen die bessere Entscheidung treffen. Wir wollen Bus und Bahn fahren statt Auto.

Aber bei den derzeitigen Preisen ist das nicht für jede und jeden von uns drin.

Selbst dann nicht, wenn man eigentlich will. Unbedingt.

Das 9-Euro-Ticket bietet der Politik die historische Chance, Zukunft zu wagen – und uns alle auf die Schiene zu bringen. Besser spät als nie.

Und was bitte würde sich dafür besser eignen als ein Klimaticket?

"Markus Lanz": ZDF-Moderator lässt Grünen-Chef Nouripour auflaufen

Der Plan der Regierung, bis 2030 mindestens 15 Millionen E-Autos auf deutschen Straßen fahren zu lassen, wackelt. Im Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP hieß es: "Rahmenbedingungen und Fördermaßnahmen werden wir darauf ausrichten, dass Deutschland Leitmarkt für Elektromobilität mit mindestens 15 Millionen Elektro-Pkw im Jahr 2030 ist." Mit der Förderung allerdings ist es seit diesem Jahr aus.

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