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Corona-Maßnahmen gelockert: Warum das nicht nur Freude auslöst

Mature man wearing a protective mask puts a face mask on a his son in airport, supermarket or other public place. Safety during COVID-19 outbreak. Epidemic of virus covid. Coronavirus pandemic.
Die Maske bleibt, aber sonst soll dieser Frühling deutlich lockerer werden. Bild: iStockphoto / SbytovaMN
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Ende von Corona-Maßnahmen für Risikopatienten besorgniserregend: "'Freedom Day' wird meine Familie unfreier machen"

18.02.2022, 15:1218.02.2022, 17:17
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Bis zum Frühlingsbeginn am 20. März sollen die Corona-Maßnahmen "in kontrollierten Schritten zurückgefahren" werden, heißt es in einem am Mittwoch gefassten Beschluss der Spitzen von Bund und Ländern. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) versprach spürbare Erleichterungen: Nach dem 20. März werde der Alltag so aussehen, "dass dann kaum Beschränkungen da sind". Die Maskenpflicht, zum Beispiel in Bussen und Bahnen, soll allerdings auch darüber hinaus erhalten bleiben

Die Begeisterung über die Öffnung wirkt noch recht verhalten

Ruft das Hurra-Schreie hervor? Ausgelassene Freiheits-Partys in Kneipen wie in Großbritannien? Bislang wirkt die Stimmung eher verhalten, wie auch eine repräsentative Umfrage des Meinungsforschungsunternehmens Civey im Auftrag von watson ergab: Fast vier von zehn jungen Menschen unter 30 befürchten demnach nach der Aufhebung der meisten Corona-Maßnahmen ab März, dass das Gesundheitssystem überlastet werden könnte. Über ein Drittel der unter 30-Jährigen fürchten sich nach den Lockerungen vor einer Ansteckung mit dem Coronavirus.

Während sich einige wohl schon mächtig auf den Frühling freuen und im Geiste Urlaub buchen, graut es anderen vor dem Auslaufen zahlreicher Corona-Maßnahmen. So zum Beispiel Familie Balk, die als Risikofamilie gilt. Die Balks sind Mama, Papa und drei Kinder – vier der fünf von ihnen leiden unter chronischen Krankheiten: Zwei der Kinder haben, sowie der Vater auch, Kugelzellenanämie, genetisch vererbbare Blutarmut. Die Mutter leidet unter Herz-Rhythmusstörungen und Anstrengungs-Asthma.

Vater Olaf Balk erklärt im Gespräch mit watson, was ihn jetzt sorgt: "Schon jetzt zu beschließen, die Maßnahmen auslaufen zu lassen, halte ich für verfrüht. Dänemark hat gezeigt, was passieren kann: Durch die Durchseuchung der Kinder wandert Corona wieder in die älteren Altersgruppen und führt dort zu steigenden Hospitalisierungen", sagt er. "Diese zeitverzögerte Entwicklung müsste die Politik doch eigentlich abwarten, bevor sie eine Entscheidung fällt."

"Euphorie erwarte ich nicht. Das liegt daran, dass das Virus mit der Lockerung der Maßnahmen ja nicht verschwunden sein wird."
Prof. Ulrich Wagner

Zudem befürchtet er, dass Deutschland im Herbst und Winter wieder genauso unvorbereitet vor einer nächsten Welle stehen könnte, wie schon die vergangenen zwei Jahre. "Wenn die Regelungen zum Infektionsschutzgesetz jetzt auslaufen, müsste man sie in Vorbereitung auf den Herbst spätestens im Sommer wieder installieren. Das kostet alles Zeit", gibt er zu Bedenken. "Warum behält man die Regeln nicht einfach bei, bereitet sich ordentlich auf den Herbst vor und wenn das dann nicht nötig war, weil es zum Beispiel keine größeren Mutationen mehr gab – umso besser?!"

Auch nach dem 20. März wird es das Corona-Virus noch geben

Mit seinen Bedenken ist Olaf Balk offenbar gar nicht so alleine. Das sagt zumindest Sozialpsychologe Ulrich Wagner. "Sicher werden wir uns darüber freuen, unter anderem die Veranstalter, die ja lange nichts tun konnten. Aber Euphorie erwarte ich nicht", so Wagner zum 'Freedom Day' gegenüber watson. "Das liegt daran, dass das Virus mit der Lockerung der Maßnahmen ja nicht verschwunden sein wird."

Sozialpsychologe Prof. Dr. Ulrich Wagner
Sozialpsychologe Prof. Dr. Ulrich WagnerBild: Laackman fotoStudios Marburg

Heißt auch: zwar wird ein Datum festgelegt, zu dem wir uns freier bewegen können. Doch nicht für jeden bedeutet das tatsächlich Erleichterung. "Vor allem aber werden diejenigen, die schon jetzt besonders unter Corona leiden, Schüler, Eltern, Menschen in Heimen und Krankenhäusern, nicht automatisch von allen Sorgen befreit", so der Professor der Philipps-Universität Marburg. "Der Unterricht fällt ja trotzdem aus, wenn Lehrkräfte an Corona erkranken."

Die hohen Inzidenzen in Schulen waren in den vergangenen Wochen ein großes Thema unter Schülern, Lehrern und Kinderärzten. Bundesweit hatte sich sogar eine größere Protestbewegung unter dem Hashtag #Wirwerdenlaut gebildet. Schüler forderten unter diesem Motto mehr Mitspracherecht, bessere Corona-Schutzmaßnahmen und erweiterte Möglichkeiten des Homeschoolings. In Anbetracht des derzeitigen politischen Kurses scheint eine solche Nachjustierung jedoch weiter weg als vorher.

Kinder- und Jugendmediziner sind sich in der Debatte uneins

Ein Fehler, wie Jugendpsychologe Prof. Julian Schmitz in einer Stellungnahme zusammen mit Kollegen sagt. Sie weisen darauf hin, dass auch unter Omikron die Hospitalisierungsraten steigen und die Langzeitfolgen von Covid-19 für Kinder und Jugendliche nicht ausreichend erforscht sind. Vor allem aber würden Infektionen über Kitas und Schulen zurück in die Gesamtbevölkerung wandern: "Eine erhöhte Infektionsdynamik von Kindern überträgt sich in die Familien und kann zu weiteren Schädigungen durch schwere Krankheitsverläufe, chronische Erkrankungen und eine erhöhte Mortalitätsrate in der Eltern- und Großelterngeneration führen, wodurch die Kinder ebenfalls psychisch belastet werden", so Schmitz.

"Kinder und Jugendliche müssen bestmöglich vor einer Covid-19 Infektion geschützt werden."
Prof. Julian Schmitz

Für Lockerungen sei entsprechend nicht der richtige Zeitpunkt. Stattdessen sagen die Psychologen: "Kinder und Jugendliche müssen bestmöglich vor einer Covid-19-Infektion geschützt werden und insbesondere die Empfehlungen zum Infektionsschutz flächendeckend und verbindlich umgesetzt und um weitere Maßnahmen wie PCR-Testungen und effiziente Masken erweitert werden."

Damit widersprechen sie den Kinderärzten, die sich zuletzt für die Lockerungsschritte ausgesprochen hatten. Der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte gab dazu an: "Der in vielen Bundesländern bereits angekündigte Verzicht auf Quarantäne in Schulen und Kitas ist richtig, denn Kinder und Jugendliche sind durch eine Infektion kaum gefährdet, wohl aber durch unnötige Unterbrechung ihres Schulalltags mit Sport und Freizeitaktivitäten." Und weiter: "Die hohen Infektionszahlen in dieser Altersgruppe sind aus unserer Sicht kein Anlass zur Sorge, da das Auftreten von schweren Erkrankungsfällen in dieser Altersgruppe weiterhin gering ist."

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Infektionen könnten über Schulen und Kitas in die Gesamtbevölkerung zurückwandern.Bild: dpa / Wolfram Steinberg

Bürger sind misstrauisch: Ist die Öffnung eine Gefälligkeitsentscheidung?

Ist die Aufhebung von Corona-Maßnahmen also gut oder schlecht? Selbst die Experten sind sich in dieser Frage uneins. Für das Vertrauen der Bevölkerung ist das nicht förderlich, sagt Psychologe Wagner: "Viele Menschen haben ihr Vertrauen in die politischen Entscheidungen im Zusammenhang mit Corona verloren. Es gab zu viele Widersprüche, politische Untätigkeit und Schweigen, und dann wieder Aktionismus, in dem sich Parteienvertreter, Minister und Ministerpräsidenten darin zu übertreffen versuchten, besonders schnell zu öffnen oder wahlweise auch zu schließen."

Wonach sich das Ende der Corona-Maßnahmen richtet, scheint vielen unklar zu sein. Auch die Presseerklärung zum Beschluss von Kanzler Olaf Scholz: "Irgendwie haben wir nach all diesen langen zwei Jahren mal verdient, dass es irgendwie wieder besser wird", hilft da nicht viel. Das Hin und Her in der Pandemie "wird als politisches Kalkül empfunden und nicht als der Versuch, beste Entscheidung zum Wohle der Bevölkerung zu finden", so Wagner.

Genauso geht es zumindest der Familie Balk aus Brandenburg. Mutter Undine Balk vermutet, "dass einige Politiker auf Wählerfang sind und den Deutschen entgegenkommen wollen, die für schnelle Öffnungen sind. Vielleicht ist das Aufgeben der Corona-Maßnahmen aber auch eine Form der Kapitulation: Die vergangenen Wochen haben ja leider gezeigt, dass die Ämter nicht mehr mit der Umsetzung von Schutzmaßnahmen oder der Nachverfolgung von Kontakten hinterherkamen."

Ihr Mann glaubt, dass die Pandemiemüdigkeit zum Treiber der Entscheidung geworden ist. "Bei vielen steht der Wunschgedanke im Raum, dass die verhältnismäßig milde Omikron-Variante das Ende der Pandemie einläutet, auch die gebeutelte Wirtschaft hat ein nachvollziehbares Interesse an Öffnungen", so Olaf Balk. "Ich denke allerdings nicht, dass alle Menschen auf einen Schlag wieder unbedarft Essen gehen oder große Veranstaltungen besuchen. Vielen ist durchaus klar, dass Covid-19 nicht verschwunden ist."

"Je unbedarfter die Gesellschaft sich wieder bewegt, desto mehr werden wir uns einschränken müssen."
Familienvater und Risikopatient Olaf Balk

Über diese Gruppe an Menschen, die sich noch gar nicht so weit vorwagen wollen, macht sich auch Psychologe Wagner Gedanken. Er sagt: "Ich befürchte, dass manche Menschen, die besonders vorsichtigen oder vulnerablen, anstehenden Lockerungen auch mit einigem Misstrauen begegnen und sich die Frage stellen, wie sie sich dennoch weiter schützen können."

Lockerungen bewegen Risikogruppen eher zum sozialen Rückzug

Genau diese Frage treibt Olaf Balk jetzt schon um. "Je unbedarfter die Gesellschaft sich wieder bewegt, desto mehr werden wir uns einschränken müssen. Insofern wird der 'Freedom Day' meine Familie eher unfreier machen. Risikogruppen werden damit weiter aus der Gesellschaft gedrängt", mahnt er im Gespräch mit watson.

"Wir könnten uns ja selbst schützen, heißt es. Wenn das tatsächlich die Haltung ist, müsste den Familien dieser Selbstschutz aber auch ermöglicht werden, das heißt zum Beispiel: Vorerkrankte Kinder sollten niederschwellig vom Präsenzunterricht befreit werden dürfen. Die Teilhabe der Kinder am Schulleben muss auch digital ermöglicht werden – gerade wenn die Corona-Maßnahmen an Schulen zurückgefahren werden."
Olaf Balk zu watson

Die Corona-Maßnahmen weitreichend auslaufen zu lassen, bedeute auch, "dass gerade die Schwächsten der Gesellschaft es nun schwerer haben", kritisiert er. "Da frage ich mich schon: Welchen Wert haben die Vulnerablen für Deutschland?"

Die Balks werden sich dann weiter zurückziehen, erklären sie. Eher Picknicks auf der Wiese, als einen Tag im Freizeitpark machen. Undine: "Alle Menschen sind pandemiemüde. Das geht uns auch so. Es wäre schön, freier zu sein. Dennoch ist uns der Schutz unserer Familie und vor allem unserer Kinder wichtiger. Wir werden weiterhin – und nach den Lockerungen eher noch stärker – auf uns aufpassen."

(mit Material der afp)

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