Zehntausende Jugendliche verlassen in Deutschland jedes Jahr die Schule ohne einen Abschluss. Dies ergab eine Studie des Bildungsforschers Klaus Klemm im Auftrag der Bertelsmann Stiftung. Im Jahr 2021 hatten demnach etwa 47.500 Schüler:innen keinen Hauptschulabschluss, das entspricht einem Anteil von 6,2 Prozent.
Die Zahl der Schulabbrecher:innen stagniert, mit leichten Abweichungen nach Bundesland, seit Jahren auf demselben Niveau. Zwischen 2011 und 2021 betrug diese Quote stets zwischen 5,7 und 6,9 Prozent.
Wie kann es sein, dass in einem so modernen Land wie Deutschland so viele Jugendliche keinerlei Schulabschluss haben?
Die Folgen können für das Leben der jungen Menschen gravierend sein: Ohne Abschluss haben sie ein höheres Risiko, in prekären Beschäftigungsverhältnissen zu landen oder arbeitslos zu werden. Es ist ein vorbestimmter Kreislauf in ein Leben in Armut.
Zwar gibt es in Deutschland einen Mangel an Fachkräften, vor allem Handwerker:innen fehlen. Doch auch dafür benötigen Jugendliche einen Abschluss.
Die Bertelsmann Stiftung empfiehlt, besonders leistungsschwache Schüler:innen im Unterricht engmaschiger zu betreuen und mit digitalen Anwendungen zu fördern. So könnten Lernrückstände frühzeitig erkannt und die Jugendlichen in ihrem Lernprozess individuell begleitet werden.
Doch wer soll diese zusätzliche Arbeit übernehmen? In Deutschland fehlen bereits zehntausende Lehrer:innen, Ende 2030 werden es noch mehr sein, wenn die Generation der Baby-Boomer in Rente geht. Viele Lehrer:innen kündigen zudem wegen schlechter Arbeitsbedingungen, dazu gehören befristete Verträge, Kündigung über die Sommerferien oder keine Teilzeit-Möglichkeiten.
Am 14. März startete in Berlin ein Bildungsgipfel der Bundesregierung. Doch ob die Politik den Ernst der Lage erkannt hat, ist, hinsichtlich der Teilnehmenden, fraglich. So kommentiert die ZDF-Hauptstadtkorrespondentin Nicole Diekmann auf Twitter:
Bei dem Gipfel soll "eine neue Kultur in der Bildungszusammenarbeit" gefunden werden, in dem Bund, Länder und Kommunen mit Unterstützung der Wissenschaft enger zusammenarbeiten. Denn Schulsache ist Ländersache – doch dieser Föderalismus erschwert oft Verbesserungen im Bildungssystem. Gute Beispiele dafür sind die Debatten um das einheitliche Abitur oder die Luftfilter an Schulen.
Wie muss sich das deutsche Bildungssystem ändern, damit diese vielen tausend jungen Menschen ihren Abschluss schaffen? watson hat den Bildungs- und Unterrichtsforscher Malte Brinkmann gefragt.
Die Systemdebatten um eine Änderung des Schulsystems lehnt Malte Brinkmann ab. Sie gehen für ihn in eine völlig falsche Richtung: "Die Bildungsforschung zeigt schon seit langem, dass guter Unterricht unabhängig von der Schulform existiert." Die Politik denke und handle nur kurzfristig, doch gute Bildungspolitik sei ein langfristiges Projekt, bei dem die Ergebnisse oft erst nach Jahren sichtbar werden.
Es gebe ebenso gute und schlechte Gesamtschulen, wie es Gymnasien gebe. Realschulen abzuschaffen, um mehr Bildungsgerechtigkeit zu bekommen, seien nur "naive" Wahlkampfversprechen. "Die Leistungen werden nicht besser dadurch, dass die Schulen ein anderes Label bekommen."
Aus Perspektive der Bildungsforschung sei guter Unterricht nicht kausal verbunden mit der Schulform. Statt das Bildungssystem zu ändern, müsse man die Qualität des Unterrichts verbessern.
Dafür brauche es aber eine andere Perspektive, man müsse eine "andere Brille" aufsetzen. "Wenn meine Brille aber auf Leistungstests, Kompetenzerwerb, auf internationales oder nationales Ranking gerichtet ist, dann sehe ich nur bestimmte Aspekte." Andere Probleme würden dadurch unsichtbar.
Ein Punkt, der für Brinkmann essenziell ist, sind die sozio-kulturellen Hintergründe der Kinder. Diese müssten sowohl beim Messen der Leistungen als auch bei den Maßnahmen mit einbezogen werden.
Die vielen Messungen würden nur dazu führen, dass sich das Bildungssystem seit 2004 konstant verschlechtere und "kaputtgespart" werde. Verbesserungen gebe es dadurch nicht: "Man könnte salopp sagen: Vom vielen Messen wird die Sau auch nicht fetter."
Brinkmann kritisiert dabei die individualistische Forschung, die nur auf Kompetenzen, Evidenzen und Rankings fixiert ist. Diese ignoriere die Vielfalt und die Komplexität in der Bildungsforschung. "Man schaut nur auf die Leistungsmessung und die daraus abgeleitete Statistik", sagt er. Diese Perspektive übersehe viele Ergebnisse der Ungleichheits-, Kindheits- und Bildungsforschung sowie der Forschung im Bereich der emotionalen Verhaltensauffälligkeit.
Um bessere Bedingungen an den Schulen zu schaffen, müsse man den Lehrer:innen erst einmal mehr Zeit geben. Sprich: Lehrer:innen brauchen bessere Arbeitsbedingungen und Hilfsstrukturen, um die gestiegenen Anforderungen im Zuge von Migration, Inklusion und Bürokratie zu bewältigen. "Viele arbeiten unter Inklusionsbedingungen, ohne dafür ausgebildet zu sein", berichtet Brinkmann.
Die Politik müsste Hilfsprogramme an den Schulen initiieren, die die Hintergründe der Schüler:innen verbessern – in enger Zusammenarbeit mit dem sozialen Umfeld wie Eltern, Institutionen vor Ort, Sozialarbeitern und speziell sonderpädagogisch ausgebildeten Lehrern. Um das überhaupt leisten zu können, brauche es aber mehr personelle, finanzielle und zeitliche Ressourcen. Brinkmann führt weiter aus:
Brinkmann fordert individuelle, lebensalter- und fähigkeitsdifferenzierte Angebote, "(...) die zunächst den Menschen und nicht die Leistung in den Mittelpunkt stellen".
Nur so kann es seiner Meinung nach funktionieren, diejenigen, die sonst durchs Raster fallen und keinen Abschluss bekommen, aufzufangen. Dies ist aber eine langfristige Aufgabe und könne nicht kurzfristig funktionieren: