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Zehntausende ohne Abschluss: Wie das Schul-System verbessert werden kann

Die Jugend hat Social Media im Alltag fest verankert. Ihr Vertrauen in die Plattformen steigt, während die Sicherheitslage auf einem neuen Tiefstand ist.
Wer seinen Abschluss nicht schafft, hat es extrem schwer, eine Ausbildung oder einen Job zu bekommen.Bild: E+ / Milko
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Zehntausende ohne Abschluss: Wie das Schul-System verbessert werden kann

15.03.2023, 14:5315.03.2023, 21:09
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Zehntausende Jugendliche verlassen in Deutschland jedes Jahr die Schule ohne einen Abschluss. Dies ergab eine Studie des Bildungsforschers Klaus Klemm im Auftrag der Bertelsmann Stiftung. Im Jahr 2021 hatten demnach etwa 47.500 Schüler:innen keinen Hauptschulabschluss, das entspricht einem Anteil von 6,2 Prozent.

Die Zahl der Schulabbrecher:innen stagniert, mit leichten Abweichungen nach Bundesland, seit Jahren auf demselben Niveau. Zwischen 2011 und 2021 betrug diese Quote stets zwischen 5,7 und 6,9 Prozent.

Wie kann es sein, dass in einem so modernen Land wie Deutschland so viele Jugendliche keinerlei Schulabschluss haben?

Menschen ohne Schulabschluss finden kaum Arbeit

Die Folgen können für das Leben der jungen Menschen gravierend sein: Ohne Abschluss haben sie ein höheres Risiko, in prekären Beschäftigungsverhältnissen zu landen oder arbeitslos zu werden. Es ist ein vorbestimmter Kreislauf in ein Leben in Armut.

Kein Abschluss = keine Zukunft?
Ohne Abschluss hat man in Deutschland kaum Chancen auf einen Ausbildungsplatz: Zwei Drittel der Menschen zwischen 20 und 34 Jahren ohne Schulabschluss sind ohne Berufsausbildung. Ungelernte sind sechsmal so häufig arbeitslos wie Menschen mit Ausbildung. Und ohne Ausbildungsplatz gibt es kaum Jobs. Die Arbeitslosenquote ist bei ungelernten Personen fast sechsmal so hoch wie bei Personen mit Berufsausbildung.

Zwar gibt es in Deutschland einen Mangel an Fachkräften, vor allem Handwerker:innen fehlen. Doch auch dafür benötigen Jugendliche einen Abschluss.

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Handwerker:innen werden in Deutschland verzweifelt gesucht.Bild: iStockphoto / AndreyPopov

Die Bertelsmann Stiftung empfiehlt, besonders leistungsschwache Schüler:innen im Unterricht engmaschiger zu betreuen und mit digitalen Anwendungen zu fördern. So könnten Lernrückstände frühzeitig erkannt und die Jugendlichen in ihrem Lernprozess individuell begleitet werden.

Doch wer soll diese zusätzliche Arbeit übernehmen? In Deutschland fehlen bereits zehntausende Lehrer:innen, Ende 2030 werden es noch mehr sein, wenn die Generation der Baby-Boomer in Rente geht. Viele Lehrer:innen kündigen zudem wegen schlechter Arbeitsbedingungen, dazu gehören befristete Verträge, Kündigung über die Sommerferien oder keine Teilzeit-Möglichkeiten.

Am 14. März startete in Berlin ein Bildungsgipfel der Bundesregierung. Doch ob die Politik den Ernst der Lage erkannt hat, ist, hinsichtlich der Teilnehmenden, fraglich. So kommentiert die ZDF-Hauptstadtkorrespondentin Nicole Diekmann auf Twitter:

"14 von 16 Kultusministern haben für den Bildungsgipfel von Bundesministerin Stark-Watzinger (FDP) abgesagt. Auch die brandenburgische Ministerin Britta Ernst. Sie gehört nicht nur zur SPD, dem Koalitionspartner der FDP im Bund, sondern ist auch die Frau von Kanzler Olaf Scholz."

Bei dem Gipfel soll "eine neue Kultur in der Bildungszusammenarbeit" gefunden werden, in dem Bund, Länder und Kommunen mit Unterstützung der Wissenschaft enger zusammenarbeiten. Denn Schulsache ist Ländersache – doch dieser Föderalismus erschwert oft Verbesserungen im Bildungssystem. Gute Beispiele dafür sind die Debatten um das einheitliche Abitur oder die Luftfilter an Schulen.

Welche Lösung kann es für die Bildungskrise geben?

Wie muss sich das deutsche Bildungssystem ändern, damit diese vielen tausend jungen Menschen ihren Abschluss schaffen? watson hat den Bildungs- und Unterrichtsforscher Malte Brinkmann gefragt.

"Die Leistungen werden nicht besser dadurch, dass die Schulen ein anderes Label bekommen."
Bildungs- und Unterrichtsforscher Malte Brinkmann

Die Systemdebatten um eine Änderung des Schulsystems lehnt Malte Brinkmann ab. Sie gehen für ihn in eine völlig falsche Richtung: "Die Bildungsforschung zeigt schon seit langem, dass guter Unterricht unabhängig von der Schulform existiert." Die Politik denke und handle nur kurzfristig, doch gute Bildungspolitik sei ein langfristiges Projekt, bei dem die Ergebnisse oft erst nach Jahren sichtbar werden.

Brinkmann ist Pädagoge und Professor für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin.
Brinkmann ist Pädagoge und Professor für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin.privat

Es gebe ebenso gute und schlechte Gesamtschulen, wie es Gymnasien gebe. Realschulen abzuschaffen, um mehr Bildungsgerechtigkeit zu bekommen, seien nur "naive" Wahlkampfversprechen. "Die Leistungen werden nicht besser dadurch, dass die Schulen ein anderes Label bekommen."

Schulstrukturreform in Berlin
Seit dem Schuljahr 2010/2011 gibt es in Berlin nur noch zwei weiterführende Schularten im Anschluss an die Grundschule: die Integrierte Sekundarschule und das Gymnasium.

Bessere Arbeitsbedingungen statt ständiger Leistungsmessung

Aus Perspektive der Bildungsforschung sei guter Unterricht nicht kausal verbunden mit der Schulform. Statt das Bildungssystem zu ändern, müsse man die Qualität des Unterrichts verbessern.

Dafür brauche es aber eine andere Perspektive, man müsse eine "andere Brille" aufsetzen. "Wenn meine Brille aber auf Leistungstests, Kompetenzerwerb, auf internationales oder nationales Ranking gerichtet ist, dann sehe ich nur bestimmte Aspekte." Andere Probleme würden dadurch unsichtbar.

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Ein Punkt, der für Brinkmann essenziell ist, sind die sozio-kulturellen Hintergründe der Kinder. Diese müssten sowohl beim Messen der Leistungen als auch bei den Maßnahmen mit einbezogen werden.

"Wenn eine Schülerin in Mathematik oder in Deutsch schlecht ist oder Dropouts auftauchen, die am Ende der Schulzeit weder richtig rechnen noch schreiben können, dann liegt das weniger an den kognitiven Kompetenzen (...). Sondern es liegt an dem sozio-kulturellen Hintergrund dieser Kinder."

Die vielen Messungen würden nur dazu führen, dass sich das Bildungssystem seit 2004 konstant verschlechtere und "kaputtgespart" werde. Verbesserungen gebe es dadurch nicht: "Man könnte salopp sagen: Vom vielen Messen wird die Sau auch nicht fetter."

Es braucht einen neuen Bewertungsansatz von Schulen – und Geld

Brinkmann kritisiert dabei die individualistische Forschung, die nur auf Kompetenzen, Evidenzen und Rankings fixiert ist. Diese ignoriere die Vielfalt und die Komplexität in der Bildungsforschung. "Man schaut nur auf die Leistungsmessung und die daraus abgeleitete Statistik", sagt er. Diese Perspektive übersehe viele Ergebnisse der Ungleichheits-, Kindheits- und Bildungsforschung sowie der Forschung im Bereich der emotionalen Verhaltensauffälligkeit.

Um bessere Bedingungen an den Schulen zu schaffen, müsse man den Lehrer:innen erst einmal mehr Zeit geben. Sprich: Lehrer:innen brauchen bessere Arbeitsbedingungen und Hilfsstrukturen, um die gestiegenen Anforderungen im Zuge von Migration, Inklusion und Bürokratie zu bewältigen. "Viele arbeiten unter Inklusionsbedingungen, ohne dafür ausgebildet zu sein", berichtet Brinkmann.

"Bildungssysteme sind vergleichbar mit schweren Tankern."
Bildungs- und Unterrichtsforscher Malte Brinkmann

Die Politik müsste Hilfsprogramme an den Schulen initiieren, die die Hintergründe der Schüler:innen verbessern – in enger Zusammenarbeit mit dem sozialen Umfeld wie Eltern, Institutionen vor Ort, Sozialarbeitern und speziell sonderpädagogisch ausgebildeten Lehrern. Um das überhaupt leisten zu können, brauche es aber mehr personelle, finanzielle und zeitliche Ressourcen. Brinkmann führt weiter aus:

"Wir haben viele sogenannte Bildungsverlierer, die aufgrund ihres sozialen Milieus, insbesondere ihres migrantischem Hintergrunds diese Probleme haben. Diese Probleme kann ich nicht kurieren, indem ich Mathe oder Deutsch trainiere. Sondern ich muss die ganze Breite des sozialen und kulturellen Hintergrundes miteinbeziehen."
Die Ursache für schlechte Noten sind komplex und nicht pauschal zu lösen.
Die Ursache für schlechte Noten sind komplex und nicht pauschal zu lösen. Bild: iStockphoto / Drazen Zigic

Brinkmann fordert individuelle, lebensalter- und fähigkeitsdifferenzierte Angebote, "(...) die zunächst den Menschen und nicht die Leistung in den Mittelpunkt stellen".

Nur so kann es seiner Meinung nach funktionieren, diejenigen, die sonst durchs Raster fallen und keinen Abschluss bekommen, aufzufangen. Dies ist aber eine langfristige Aufgabe und könne nicht kurzfristig funktionieren:

"Bildungssysteme sind vergleichbar mit schweren Tankern. Es dauert Jahre, bis man deren Kurs gewendet hat. Da unser Bildungssystem vom Kindergarten bis zur Universität viele Institutionen, sehr viele Menschen und sehr viele eingefahrene Perspektiven beinhaltet, kann man das nicht eben mal mit irgendeinem Programm wenden."
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