Eigentlich sollte es am 20. März wieder richtig losgehen mit der Freiheit: Keine 2G- oder 3G-Regeln mehr, keine Homeoffice-Pflicht, keine Teilnehmer-Begrenzung bei privaten Treffen – darauf hatten sich Ende Februar die Vertreter des Bundes und der Länder geeinigt.
Doch nun ist der so genannte "Freedom Day" wieder in der Schwebe. Zahlreiche Bundesländer haben bereits angekündigt, die bestehenden Maßnahmen bis zum 2. April aufrecht zu erhalten, wieder andere wollen die Sitzung des Bundestags am Mittwoch abwarten. Dort soll nämlich morgen über die für die Lockerungsschritte entscheidende Änderung des Infektionsschutzgesetzes beraten werden.
Hintergrund für den Stimmungswechsel sind die derzeit steigenden Infektionszahlen. Getrieben durch die Omikron-Variante stiegen die Neuinfektionen zuletzt auf 198.888, die 7-Tage-Inzidenz liegt bundesweit bei 1585,4, die Hospitalisierungs-Inzidenz bei 7,21. (Daten vom 15.03, RKI)
198.888 Neuinfektionen – das bedeutet auch, man könnte das Berliner Olympiastadion jeden Tag fast dreimal mit neuen Corona-Fällen füllen. Warum sind es plötzlich so viele? Als einen der Gründe vermutet Prof. Sandra Ciesek nicht nur, dass "die anscheinend noch ansteckendere Omikron-Subvariante BA.2 die Subvariante BA.1 verdrängt", sondern auch "unser Verhalten".
Die Virologin erklärt gegenüber watson: "Die Bedrohung durch die Pandemie wird nun vielleicht angesichts anderer Weltereignisse weniger stark wahrgenommen und so auf Eindämmungsmaßnahmen verzichtet oder diese nicht mehr so ernst genommen." Heißt im Klartext: Die Ukraine-Krise hat die Gefahren des Virus relativiert und uns unvorsichtiger werden lassen.
Karl Lauterbach (SPD) rät seinen Kollegen angesichts all dessen dazu, die Übergangsfrist der Lockerungen bis zum 2. April auszuschöpfen. "Wir sind nicht in der Situation, als dass man jetzt alle Maßnahmen fallen lassen könnte", so der Gesundheitsminister im ARD-Morgenmagazin.
Er setzt auf eine sogenannte Hotspot-Regelung, die am Mittwoch dem Bundestag als Entwurf vorgelegt wird und die das auslaufende Infektionsschutzgesetz ersetzen könnte. Diese Hotspot-Regelung überträgt die Verantwortung für Maßnahmen an die Länder. Bei kritischen Coronafaktoren (zum Beispiel beim Auftreten einer gefährlichen Virusvariante oder Überlastung der Krankenhäuser) sollen dann regional Schutzmaßnahmen möglich sein.
Der deutsche Flickenteppich an Corona-Maßnahmen, der eigentlich vermieden werden sollte, scheint damit gerade wieder ausgerollt zu werden. Ob der Bundestag einer solchen Regelung zustimmt, bleibt abzuwarten.
Epidemiologe Markus Scholz spricht sich gegenüber watson hingegen für eine Vertagung der Lockerungsschritte aus: "Wenn jetzt weiter gelockert wird, ist mit weiter steigenden Zahlen zu rechnen", sagte der Professor der Universität Leipzig. "Die Situation in den Krankenhäusern ist nach wie vor angespannt – auch aufgrund der hohen Personalausfälle."
Scholz betreibt mit seiner Arbeitsgruppe seit über 15 Jahren Infektionsforschung und untersucht aktuell vor allem die Corona-Pandemie. Er sagt: "Weitere Lockerungen sollten meiner Einschätzung nach nur bei deutlich sinkenden Fallzahlen durchgeführt werden. Ich rechne damit, dass dies der Fall sein wird, wenn die Temperaturen deutlicher steigen. Solange würde ich aber noch warten."
Einige Lockerungen sind allerdings bereits umgesetzt worden. So öffneten die Clubs und Discotheken vor zwei Wochen wieder, auch der Karneval durfte teilweise stattfinden. Zudem fiel die Maskenpflicht bereits Anfang März an einigen Schulen: In Hessen, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern müssen Schüler nicht mehr mit Maske unterrichtet werden, in Bremen und Rheinland-Pfalz dürfen zumindest die Grundschüler ohne Schutz in den Unterricht.
Für Epidemiologe Scholz ist das der wohl größte Kritikpunkt. "Dass bei den aktuell steigenden Fallzahlen in Schulen die Maßnahmen gelockert werden, ist für mich völlig unverständlich", sagt er gegenüber watson deutlich. "Es ist zwar richtig, dass Kinder und Jugendliche selten schwer erkranken, durch die Verbreitung in Schulen wird die Infektion aber in die Familien und damit in vulnerable Gruppen getragen. Man kann hier meiner Einschätzung nach die Familien, die sich schützen wollen, nicht völlig im Stich lassen."
Nach einem Entwurf der Ampel-Regierung soll nach dem 19. März eine Maskenpflicht nur noch in Pflegeheimen, Kliniken und im öffentlichem Nahverkehr sowie im Fernverkehr gelten. Laut Scholz ist das das Mindeste, "bis wir bei einem niedrigen Infektionsniveau angelangt sind." Diese Regelungen geht ihm aber noch nicht weit genug. Er rät zu prophylaktischen Testen für Gemeinschaftseinrichtungen wie Krankenhäuser, Pflegeheime, aber auch in Schulen sowie zu einer Beibehaltung der Maskenpflicht in Innenräumen – wie Supermärkten, Drogerien, Museen, Kinos und Schulen.
Nach heutigem Stand plant die Bundesregierung allerdings, das Tragen der Maske sogar im Einzelhandel auslaufen zu lassen. Es wäre das erste Mal seit zwei Jahren, dass die Deutschen wieder ohne eine Form des Mundnasenschutzes in den Supermarkt gehen könnten.
Ein schöner Gedanke, aber vielleicht noch zu früh, wie die Virologin Prof. Sandra Ciesek dem Epidemiologen beipflichtet: "Der Wunsch nach weiteren Lockerungen ist psychologisch sehr gut nachvollziehbar. Das Risiko, dass sich das in höheren Fallzahlen widerspiegelt, ist aber natürlich da."
Hohe Fallzahlen bedeuten auch, dass sich mehr Risikogruppen infizieren, ganz abgesehen von noch unerforschten Langzeitfolgen, wie Scholz mahnt: "Aus dem Aspekt der Long-Covid-Problematik würde ich davon abraten, das Infektionsgeschehen völlig unkontrolliert zu lassen." Etwa 10 bis 20 Prozent aller Corona-Genesenen entwickeln Long-Covid-Symptome, hat die Berliner Charité ermittelt. Das wären bei den derzeitigen Neuinfektionen also fast 20.000-40.000 Betroffene, die täglich hinzukämen.
Doch die Wissenschaftler geben auch Hoffnung. Zwar sei die Lage derzeit noch angespannt und weitreichende Lockerungen verfrüht, doch "durch den saisonalen Effekt rechne ich mit einem baldigen Rückgang der Fallzahlen", so Scholz. Auch Durchseuchungseffekte spielten – trotz möglicher Wiederansteckungen – dabei eine Rolle.
Auch Ciesek setzt auf den vor der Tür stehenden Frühling und Sommer: "Bisher zeichnete sich für Europa eine Saisonalität ab, bei der im Sommer weniger Fälle auftreten als im Winter. Natürlich hoffe ich, dass das auch dieses Jahr so sein wird", sagt sie.
Allerdings würde Deutschland dieses mal – insbesondere, wenn früh gelockert wird – mit sehr viel höheren Fallzahlen in die warme Jahreszeit starten, als noch die vergangenen zwei Jahre. "Ein Unterschied zum letzten Sommer ist, dass wir es nun mit einer ansteckenderen Variante zu tun haben, die ja der Immunreaktion auf vorherige Varianten und Impfstoffe ein Stück weit ausweichen kann", sagt Ciesek. "Wie sich das dann in Zahlen ausdrücken wird, werden wir sehen müssen."
(jj/mit Material der dpa)