Das Robert-Koch-Institut (RKI) spricht von einem "neuen Höchststand" in Deutschland. Die EU-Gesundheitsbehörde schlägt Alarm aufgrund von "besorgniserregend" hohen Fallzahlen. Und in den USA warnt die Gesundheitsbehörde CDC vor einer Epidemie, "die außer Kontrolle gerät". Anfang des Jahres gab es viel Aufregung um sexuell übertragbare Krankheiten wie Tripper, Chlamydien oder Syphilis.
Dabei hatte sich speziell die Zahl der Syphilis-Infektionen um die Jahrtausendwende eigentlich auf niedrigem Niveau eingependelt. Hierzulande schien die Krankheit fast schon besiegt. Aber seit 2010 steigen die gemeldeten Fälle – mit Ausnahme der beiden Corona-Jahre 2020 und 2021 – kontinuierlich an.
Die erste Syphilis-Epidemie in Europa ist schon Ende des 15. Jahrhunderts ausgebrochen, und zwar kurz nachdem Christoph Kolumbus und seine Mitreisenden von ihrer ersten Expedition aus Amerika zurückgekehrt waren. Deswegen steht bis heute die Frage im Raum, ob es der Seefahrer war, der die "Lustseuche" im Gepäck hatte.
Über die folgenden Jahrhunderte plagte die Syphilis die europäische Bevölkerung immer wieder. Wie viele Menschen daran insgesamt gestorben sind, ist unklar. Die Liste prominenter Betroffener ist allerdings lang: Ludwig van Beethoven, Friedrich Nietzsche, Katharina die Große, Paul Gauguin, Oscar Wilde und viele mehr sollen sich mit Syphilis angesteckt haben.
Heute lässt sich die sexuell übertragbare Infektion (STI) eigentlich leicht vermeiden und behandeln. Kondome bzw. Antibiotika sind meist die Mittel der Wahl. Trotzdem ist die Syphilis aktuell wieder auf dem Vormarsch: 9090 Neuinfektionen verzeichnet das RKI in Deutschland für das Jahr 2023 (Stand: 11. März 2024). So hoch waren die Zahlen seit Einführung des Infektionsschutzgesetzes 2001 noch nie. Damals zählte man weniger als 2000 Fälle innerhalb eines Jahres.
Die EU-Gesundheitsbehörde meldet für das Jahr 2022 über 35.000 Neuinfektionen, ein Anstieg um 34 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. In den USA steckten sich laut der Gesundheitsbehörde CDC im gleichen Jahr über 200.000 Menschen mit Syphilis an – 80 Prozent mehr als noch fünf Jahre zuvor. Doch worin liegen die Ursachen für diesen Trend?
Fakt ist, in Deutschland sind überwiegend Männer betroffen. Frauen machten im Jahr 2022 laut RKI nur 5,6 Prozent der gemeldeten Syphilis-Fälle aus. Die Mehrzahl der betroffenen Männer hat sich wahrscheinlich beim Sex mit Männern (MSM) angesteckt; auf diese Gruppe entfielen 2022 mindestens zwei Drittel der Neuinfektionen. Die höchsten Inzidenzen fanden sich in den Ballungsgebieten, u. a. in Berlin, Köln, München sowie Nürnberg und Frankfurt.
Ausgehend von diesen Daten leitet das RKI mögliche Ursachen ab, warum die Syphilis-Infektionszahlen seit Jahren kontinuierlich ansteigen: Demnach ist die Rolle von Dating-Apps bei der Ausbreitung von STIs nicht zu unterschätzen. Denn Tinder, Grindr & Co würden Menschen ermöglichen, schnell und anonym ihre Sexualpartner:innen wechseln – auch außerhalb von Großstädten.
Hinzukommt, dass Syphilis teilweise auch symptomfrei verläuft, d. h. ein Teil der infizierten Menschen gibt die Erreger wohl auch unwissentlich weiter. Ähnlich wie in Zeiten der Corona-Pandemie könnten die steigenden Infektionszahlen aber auch ein Zeichen dafür sein, dass sich mehr Menschen auf STIs testen lassen. Folglich werden auch mehr positive Fälle gemeldet.
Woher die Syphilis ursprünglich stammt, darüber wird heute noch diskutiert. Der Medizinhistoriker Axel Hüntelmann von der Charité Berlin bringt die Kernfrage im Gespräch mit watson auf den Punkt:
Feststehe, dass sich die Krankheit in den 1490er-Jahren zunächst in Spanien ausbreitete und dort als neuartig empfunden wurde, so Hüntelmann. Zudem sei die Syphilis auch schnell mit Sexualität in Verbindung gebracht worden.
Die Kolumbus-Theorie stellte dann wohl zum ersten Mal der spanische Arzt Ruy Díaz de Isla auf. Er soll einige von Kolumbus' erkrankten Crew-Mitgliedern untersucht haben. Die Geschwüre an deren Körpern waren dem Arzt komplett unbekannt. Deshalb vermutete er, dass es sich um eine neue Krankheit handelte, die die Männer aus Hispaniola (heute: Haiti und Dominikanische Republik) eingeschleppt hatten.
Aus Spanien soll sich die Seuche dann über ganz Europa verbreitet haben. Im Jahr 1495 traf es auch das Heer des französischen Königs Karl VIII. Der hatte zuvor im Zuge seines Italien-Feldzugs die Stadt Neapel eingenommen, was seine Soldaten ausschweifend feierten. Die Hemmungslosigkeit rächte sich nicht viel später, als die Männer von Geschwüren geplagt wurden und mit Karl VIII. schließlich den Rückzug antraten.
Auf ihrem Rückweg nach Frankreich steckten sie wohl noch weitere Menschen mit der Krankheit an, weswegen man in Deutschland auch lange Zeit von der "Franzosenkrankheit" sprach. Die Polen nannten Syphilis hingegen die "deutsche Krankheit" und die Russen die "polnischen Krankheit".
Daran könne man gewissermaßen die Ausbreitungswege der Syphilis in Europa ablesen. "Und das Böse schreibt man gerne dem Nachbarn zu", erklärt Hüntelmann vor dem Hintergrund der vielen kriegerischen Auseinandersetzungen dieser Zeit.
Bis heute ist die Wissenschaft mit der Suche nach dem Ursprung der Krankheit beschäftigt. In den vergangenen Jahren haben sich jedoch Hinweise gemehrt, dass Syphilis-ähnliche Krankheiten schon lange vor Christoph Kolumbus verbreitet waren – und zwar auf beiden Seiten des Atlantiks.
Bei Ausgrabungen im österreichischen St. Pölten entdeckten Wissenschaftler 2015 mehrere Fälle kongenitaler Syphilis – also Syphilis, die von der Mutter während der Schwangerschaft auf das Kind übertragen wird. Die Funde stammten aus dem Zeitraum zwischen 1320 und 1390, also mindestens 100 Jahre, bevor Kolumbus überhaupt über den Atlantik segelte. Entscheidender Hinweis für das Forschungsteam der Universität Wien waren die charakteristischen Veränderungen am Gebiss der Skelette.
Ein Schritt weiter als die österreichischen Wissenschaftler ist das Forschungsteam um die deutsche Archäologin Verena Schünemann von der Universität Basel gegangen: Sie haben ihren Fund – die 2000 Jahre alten Knochen mehrerer Menschen aus Brasilien – nicht nur äußerlich auf Spuren von Syphilis untersucht, sondern auch Knochenproben entnommen und analysiert.
Und dabei sind sie auf die DNA von Treponema pallidum endemicum gestoßen, also den Erregern der endemischen Syphilis. Die existiert auch heute noch und könnte man quasi als Cousine der sexuell übertragbaren Syphilis bezeichnen. Dazu erklärt die Archäologin Schünemann:
Da man gleichzeitig kein Erbgut der sexuell übertragbaren Syphilis in Brasilien gefunden habe, erscheine die Kolumbus-Theorie als immer unwahrscheinlicher. Doch wenn die Syphilis, die sich heute wieder in Europa ausbreitet, vor Kolumbus nicht in Amerika existierte, woher stammt sie dann?
Eine Erklärung könnte die Rekombination von Bakterien sein – Schünemann erklärt es für Laien als "bakteriellen Sex". Es könnte also sein, dass durch den Kontakt der "Neuen Welt" und der "Alten Welt" unterschiedliche Syphilis-Erreger aufeinandertrafen und so eine neue Bakterien-Unterart entstanden ist – und zwar die Erreger der sexuell übertragbaren Syphilis, die uns heute bekannt ist.
"Das Treponema pallidum ist aber ein schwieriges Bakterium", sagt Schünemann. Weltweit gebe es nur ein Labor, in dem es gelungen sei, die Bakterien in vitro, also im Reagenzglas, zu züchten. Eine Rekombination sei noch nicht gelungen, die Forschung dazu steht also noch ganz am Anfang. Ob Patient 0 also wirklich unter Kolumbus‘ Männern war, wird weiter ein Rätsel bleiben.