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Weniger Schamlippen, mehr G-Punkt: Immer mehr Frauen lassen ihre Vulva operieren

Operationen im Intimbereich dürfen in Deutschland auch Gynäkolog:innen vornehmen.
Operationen im Intimbereich dürfen in Deutschland auch Gynäkolog:innen vornehmen.Bild: iStockphoto / peakSTOCK
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Weniger Schamlippen oder mehr G-Punkt: Warum immer mehr Frauen Vulva-OPs durchführen

18.05.2023, 12:1418.05.2023, 12:20
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Der weibliche Körper ist keine Privatsache. Im Gegenteil, er wird schon seit Jahrhunderten von der Gesellschaft genauestens beäugt und bewertet. Schönheitsideale wandeln sich ständig und setzten Frauen unter Druck: In den 50ern sollte eine weibliche Figur so kurvig wie die von Marilyn Monroe aussehen, in den 60ern dann so burschikos und schlank wie bei Twiggy.

Und heute? Im Zeitalter der plastischen Chirurgie, kann sich jeder so formen lassen, wie er will – egal, mit welcher Figur er geboren wurde.

Durch Promis wie Kim Kardashian, für die Schönheits-Operationen wohl so selbstverständlich sind wie der Gang ins Fitnessstudio, wird diese Fixierung auf den Körper immer extremer. Nun richtet sich der Blick also auch auf die Form der Schamlippen. Mittlerweile gibt es den geläufigen, abfällig verwendeten Begriff "Cameltoe", zu Deutsch Kamelzehe. Damit ist der Abdruck der Vulva durch enge Hosen wie Leggins gemeint.

Um so etwas zu vermeiden, lassen sich manche Frauen die Vulva operieren. Viele Websites für Intim-Chirurgie werben mit plastisch-chirurgischen Eingriffen in der Intimzone, für die "perfekte" Vulva. Bei einer Praxis heißt es beispielsweise:

"Eine Schönheits-OP im Bereich der Vagina kann das Selbstwertgefühl steigern. Nicht, weil man nun so aussieht, wie es die Gesellschaft vorgibt, sondern weil man selbst individuelle Entscheidungen über den eigenen Körper trifft. Ein bestärkendes, befreiendes Gefühl der Unabhängigkeit stellt sich so ein."

Die Zahl der Vulva-Operationen steigt

Dieses "befreiende, bestärkende" Gefühl wollen scheinbar immer mehr Frauen. 2017 bezeichnete die internationale Gesellschaft für ästhetische und plastische Chirurgie (ISAPS) Schamlippenkorrekturen als schnellstwachsenden Trend im Bereich der Schönheitsoperationen. Zwar sind die Zahlen lange nicht so hoch wie in Amerika – doch auch in Deutschland scheint der Trend anzukommen.

Nach Angaben der Internationalen Gesellschaft für Ästhetische und Plastische Chirurgie (ISAPS) wurden im Jahr 2017 global 73,3 Prozent mehr Schamlippen-Korrekturen durchgeführt als noch 2015. Für Deutschland gibt es eine Steigerung von circa 35 Prozent zwischen 2019 und 2021 mit 10.556 Eingriffen. Neu dabei sind in diesem Jahr die Verjüngung, sprich Verengung der Vulva mit 1457 Operationen.

Doch was ist überhaupt eine schöne Vulva und was eine hässliche? Während viele Menschen früher nicht einmal wussten, dass es verschieden Formen der Vulva gibt, gibt es heutzutage klare Vorgaben. "Kulturell entstanden ist das Ideal, dass das Geschlecht oder die Vulva möglichst klein und versteckt sein soll", erklärt die Psychologin Ada Borkenhagen im Gespräch mit watson. "Eine sehr stark ausgeprägte Vulva löst häufig bei Männern Angst vor starken, gierigen Frauen aus."

Dr. Ada Borkenhagen ist Professorin an der medizinischen Fakultät der Universität Magdeburg.
Dr. Ada Borkenhagen ist Professorin an der medizinischen Fakultät der Universität Magdeburg.bild: privat

Eine "schöne" Vulva im "Scham"-Bereich muss also zurückhaltend sein, ordentlich verstaut und zahm: Dazu passt es, dass laut Borkenhagen die Schamlippenverkleinerungen die häufigste Operationsart im Bereich der Intim-Chirurgie ist. Laut Idealvorstellung sollen hierfür die äußeren Schamlippen die inneren verdecken.

"Die Vulva war wissenschaftlich tabuisiert und das hat sich in Deutschland nicht geändert.“
Psychologin Ada Borkenhagen

Andere mögliche Eingriffe sind die verjüngende Vaginalstraffung, die Venushügel- oder Klitoriskorrektur sowie die Aufspritzung des G-Punkts. Manchmal sind die Eingriffe medizinisch notwendig, wenn Frauen beispielsweise Schmerzen beim Sex haben. Eine weitere Begründung ist die Steigerung des weiblichen Lustempfindens. Dennoch sind die meisten Vulva-Operationen rein ästhetischer und nicht medizinischer Natur.

Eine Vulva muss klein sein, ein Penis groß

Die Schönheitsvorstellung für die weibliche Vulva entwickelten sich laut Borkenhagen, als sich "die Teilrasur der Schamhaare als Modephänomen, also als Trend bei den unter 30-jährigen Frauen, durchgesetzt hat". Plötzlich war die Vulva sichtbar und musste dementsprechend auch gestaltet werden.

"In dem Moment, als die Vulva sichtbar wurde, hat sich für diesen Bereich auch ein Schönheitsideal herausgebildet. Das hatten wir früher so nicht. Vor 30 oder 40 Jahren haben die meisten Frauen gar nicht gewusst, dass sie unten herum alle unterschiedlich aussehen. Natürlich hat man sich das denken können, aber die genaue Anatomie war quasi unter dem Schamhaar verborgen."

"Dass der weibliche Schambereich sichtbar wurde, kann man auch als emanzipative Entwicklungen positiv sehen." Die weibliche Anatomie in Schul- und auch medizinischen Lehrbüchern wurde lange Zeit sträflich vernachlässigt. "Die Vulva war wissenschaftlich tabuisiert und das hat sich in Deutschland nicht geändert." Denn es gebe bestimmte Auflagen: "Wenn die Vulva sehr ausgeprägt gezeigt wird, gilt das schnell als Pornografie, also wurde da viel wegretuschiert."

"Das männliche Genital soll groß und präsent sein. Die Vulva glatt, klein und versteckt."
Psychologin Ada Borkenhagen

Wo man die Vagina also zur Genüge und in Nahaufnahme sah, waren Pornos, die sich in den 1960er-Jahren mit der sexuellen Revolution verbreiteten. Borkenhagen sieht in der Pornoindustrie einen wesentlichen Auslöser der Ausbildung von Idealvorstellungen eines weiblichen – aber auch männlichen – Idealbilds.

Sie erklärt:

"Es haben sich bestimmte kulturelle, althergebrachte Formen und kulturelle Ideale darüber gestülpt. Das männliche Genital soll groß und präsent sein. Die Vulva möglichst glatt, klein und versteckt. Dieses Bild ist auch durch die Pornoindustrie so entstanden."
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Sobald ein weiblicher Körperteil sichtbar wird, muss es perfektioniert werden:

"Diese Entwicklung fängt am Ende des 19. Jahrhunderts an, also noch 1890, als in bürgerlichen Kreisen Abendkleider modern wurden, die die Arme und die Achseln freilegten. Und schon in dem Moment mussten dann natürlich die Achselhaare entfernt werden. Er ging in den 50er Jahren noch weiter, zum Beispiel mit der Bikini-Zone."

Wie viele Frauen sich wegen dieser Idealvorstellungen in Deutschland wirklich unters Messer legen lassen, um ihre Vulva operativ zu verändern, ist jedoch schwer feststellbar. Denn in Deutschland darf theoretisch jede:r Ärzt:in eine Schönheitsoperation machen, wie Kerstin Ark, Sprecherin der Deutschen Gesellschaft für Plastische, Rekonstruktive und Ästhetische Chirurgie erklärt.

"Es ist gesetzlich nicht geregelt, wer ästhetische Eingriffe machen darf." Außerdem handelt es sich dabei meist um Privatleistungen, die nicht einheitlich und durchgehend erfasst werden.

Leggings sind ein Modetrend, der für manche Frau problematisch sein kann – wegen ihrer Vulva.
Leggings sind ein Modetrend, der für manche Frau problematisch sein kann – wegen ihrer Vulva. Bild: iStockphoto / Ildar Abulkhanov

Keine klare Rechtslage in Deutschland

Sogar der Gynäkologe, der Hausarzt oder der Internist dürfe, solange es nicht zu häufig ist, eine intim-chirurgische Operation vornehmen. Eine Rechtslage, die Gefahren birgt. Erst 2021 starben zwei Patientinnen in Düsseldorf bei einer Po-Vergrößerung durch einen Internisten.

In Österreich ist die ästhetische Chirurgie laut Borgenhaken 2013 besser reguliert – laut der Leitlinien nach Körperregionen: Der Gynäkologe darf im Brust- oder Intimbereich operieren, der Kieferchirurg im Gesicht.

Auch in Amerika sei ein solcher Eingriff sicherer:

"In Deutschland ist das Problem, dass es im ärztlichen Bereich keinen so guten Verbraucherschutz gibt. In Amerika regeln sie das über den Markt. Wenn da jemand horrende Schadensersatzforderungen zugesprochen bekommt, wird solche Operationen danach nicht mehr unbedingt der Hausarzt machen. Oder die entsprechenden Versicherungen werden dann extrem hoch für den Arzt, der nicht vom Fach ist."

Mag sein, dass sich der Trend zur "kleinen" Vulva irgendwann dreht. Immerhin beschwerte sich Khloe Kardashian, man solle doch mehr Stoff in die Mitte der Sporthosen-Leggings der Marke "Skims", die ihrer Schwester Kim Kardashian gehört, vernähen. Khloe zählt sich selbst als Mitglied des "big p***y club" und macht sich selbstbewusst über ihren "Cameltoe" lustig.

In einer Sendung des amerikanischen TV-Senders Hulu im April 2022 fragte sie ihre Schwester neckisch, ob das Design so entworfen wurde, um "nur meine Klitoris zu bedecken?" Sie sagte, die Hose würde ihr Schmerzen beim Tragen bereiten und erklärte gegenüber Kim: "Die Vagina braucht ein bisschen mehr Stoff." Und Kim entwarf prompt ein neues Modell für ihre Schwester.

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