Diese Meldung dürfte manch einen mit Hang zum "Hamstern" in Alarmbereitschaft versetzen: Nach dem Corona-Toilettenpapier-Notstand geht es diesmal nicht nur um Mehl oder Pflanzenöl. Auch Süßwaren und Wein könnten wegen des Kriegs in der Ukraine demnächst wohl knapp werden.
Die Süßwaren-Branche befinde sich "in der schwierigsten Situation seit dem Bestehen der Bundesrepublik", wie eine Sprecherin des Bundesverbandes der Deutschen Süßwarenindustrie der Tageszeitung "SZ" sagt. Der Grund? Der Rohstoffmangel, der vor allem für die Branche essentielle Erzeugnisse wie Weizen, Sonnenblumenöl und Nüsse betrifft, trifft auf coronabedingt höhere Preise bei Verpackung und Zutaten.
Und auch die Winzer schlagen Alarm: Es fehlt an Weinflaschen. Denn neben Glasfabriken sei auch Europas größte Sektkapselfabrik zerstört worden, wie ein Sprecher des Bundesverbands Glasindustrie der "Süddeutschen Zeitung" sagt.
Aber auch Impfstoffe, Dünger, Nägel und Damenbinden könnten bald knapp werden. Was schlussendlich in welchen Bereichen fehlen werde, ist laut Klaus-Jürgen Gern vom Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW) jedoch schwer vorauszusagen. "Was fehlen wird, sind sogenannte Haltwaren. Das sind leicht verarbeitete Zwischenprodukte, die in alle möglichen anderen Dinge eingebaut werden. Oder für Produkte, die wir gar nicht im Regal sehen, wie Paletten", sagt er im Gespräch mit watson.
"Wo wir wahrscheinlich als erstes den Mangel im Laden sehen werden, sind Baumaterialien", meint Gern. Und für Paletten braucht man Holz. Da Furniere und Schnittholze aber "zu einem beträchtlichen Teil aus Russland kommen", prognostiziert der Ökonom hier einen möglichen Engpass. Dazu mangelt es auch an Nägeln. Und zwar nicht nur irgendwelche Nägel, sondern spezielle, sogenannte Konvexringnägel, die man unter anderem für Paletten braucht. Da eines der größten Stahlwerke Europas aber in der Ukraine steht, können diese derzeit nicht ausreichend produziert werden.
Ein Mangel an Holzpaletten, weil Bretter und Nägel knapp werden. Klingt ja gar nicht so schlimm? Leider doch. Denn Paletten sind für den Transport von Lebensmitteln im Logistikprozess des Einzelhandels unverzichtbar. Das heißt als mögliche Folge: Lebensmittel könnten nicht deshalb fehlen, weil sie nicht produziert werden – sondern weil sie schlicht und einfach ohne Paletten nicht transportierbar sind. "Paletten sind wirklich ein Beispiel, das die gesamte Wirtschaft betrifft."
Wenn die Paletten dann aus dem Ausland geholt werden müssten, werde "der ganze Transportprozess aufwendiger und teurer", erklärt Gern. Und somit auch die Produkte selbst. Denn die Produzenten geben Preissteigerungen meist an den Endkunden weiter.
Noch sind die Engpässe nicht eingetreten. Der Experte gibt vorerst Entwarnung, denn es seien noch extrem viele Paletten im Umlauf. Um einen Engpass zu vermeiden, müsse man allerdings vorausplanen und die "Nutzung effizienter" gestalten. Zum Beispiel mit Recycling des aktuellen Bestands.
Die Paletten sind allerdings nur eine von vielen Stellen in der Lieferkette, wo es haken können. "In der Summe hat man in der Wirtschaft Probleme, die Produktion in dem Umfang aufrecht zu erhalten, wie es gewünscht wäre." Vor allem – und am dramatischsten – bei Grundnahrungsmitteln.
Deutschland importiert zwar relativ wenig Weizen aus der Ukraine: 0,04 Prozent Anteil an den Gesamtexporten der Ukraine sind in absoluten Zahlen 7.105 Tonnen Weizen und Mengkorn. Doch als Reaktion auf den steigenden Getreidepreis haben Exportländer wie Ungarn oder Russland ein Exportverbot erlassen.
Wenn der Weizenpreis weltweit steigt, ist es für russische oder ungarische Bauern lukrativer, den Weizen ins Ausland zu verkaufen. Somit würde der Weizenpreis aber auch innerhalb des Landes knapp werden und damit im Preis steigen, wie Ökonom Gern erläutert.
Zwar ist Gern optimistisch, dass die deutsche Wirtschaft die Engpässe in bestimmten Bereichen ausgleichen können wird, doch dies sei verbunden mit einem Anstieg der Preise und einem Anfeuern der Inflation. "Einige Güter werden dann in den nächsten Monaten teurer werden." Teuer als ohnehin schon.
Quantitativ ist die Entwicklung des Weltmarkts schwer vorauszusagen, doch Gern sieht, dass die Prognosen der Modelle zur Berechnung der Inflationsrate derzeit übertroffen werden:
Durch den Krieg hat sich die wirtschaftliche Lage stark verändert: Wenn Deutschland sich nun sein Gas, sein Getreide oder andere Güter in anderen Ländern beschafft, muss ein anderes – in den meisten Fällen – ärmeres Land, darauf verzichten. "Es kann nur einer dieses Getreide kaufen und konsumieren und jemand anders muss es dann abgeben. Dafür gibt es einen Markt und derjenige, der die geringsten Mittel hat oder auch den geringsten Wunsch hat, gibt es ab."
Die Prinzipien des freien Marktes lassen sich nicht so einfach umgehen. "Das lässt sich im Prinzip nicht umgehen und alle Maßnahmen, die diesen Mechanismus versuchen, außer Kraft setzen, machen die Probleme eigentlich nur noch schlimmer", sagt Gern. Keine gute Nachricht angesichts der sich ohnehin verschärfenden Hungersnot weltweit, die gerade ärmere Länder stark trifft.
Bei einigen Produkten wie Gas könne es zwar durchaus vorkommen, das ein Land kein so großes Interesse am Produkt habe. "Aber bei einem Grundnahrungsmittel ist es eher so, dass die Zahlungsfähigkeit die Entscheidung bestimmt, ob man kauft oder nicht." Hier hat das reiche Industrieland Deutschland also einen entscheidenden Vorteil, in dem es harte Zeiten mit Geld abfedern kann.
Gern rechnet damit, dass es in der kommenden Zeit von der Politik weitere Maßnahmen geben wird, um die Preissteigerungen gerade für finanziell schwache Haushalte abzufangen. Doch nicht alle gut gemeinten Hilfspakete sind auch effektiv: Die staatlichen Hilfen bezüglich des hohen Benzinpreises beispielsweise würden laut Gern "eigentlich keinen Sinn machen". Finanzminister Christian Lindner (FDP) will die geplante dreimonatige Steuersenkung auf Benzin und Diesel von Anfang Juni bis Ende August 2022 umsetzen
Warum das der falsche Weg ist, erklärt der Ökonom vom Kieler Institut für Weltwirtschaft so:
Um die Geldbeutel von Bürgerinnen und Bürgern zu entlasten, rät Gern stattdessen zu indirekten Hilfen und Zahlungen. "Man muss den Menschen in irgendeiner Weise Einkommen zur Verfügung stellen, damit sie sich das, was sie unbedingt brauchen, weiter kaufen können oder aber eben den Anreiz haben, so viel wie möglich davon zu vermeiden, was teurer wird."
Wenn man einfach nur Preis der Produkte senke, würde dieser Anreiz fehlen. Man würde dann einfach weiter so einkaufen wie vorher. "Und das was der Preismechanismus in einer Marktwirtschaft macht – Knappheit anzeigen und die Verteilung der Güter steuern – wird dann verschlechtert und erschwert", sagt der Ökonom.
Indirekte Hilfen wie die Haushaltspauschale für die gestiegenen Energiekosten seien dagegen viel effektiver: "Es wurde nur das Einkommen so angehoben, dass man nicht dadurch bankrott geht, dass eine höhere Energierechnung gezahlt werden musste." Das Preissignal bleibe damit bestehen, heißt: das Notwendigste könnte gekauft werden, teure Produkte würden nach Möglichkeit vermieden. Wenn es die Produkte denn überhaupt wegen der Engpässe noch zu kaufen gibt.
Wenn Holz fehlt, fehlen Paletten, also fehlen Nudeln oder Mehl: So ist das in Zeiten der Globalisierung – alles hängt mit allem zusammen. "Die Situation jetzt hat gezeigt, wie verletzlich dieses Geflecht der Wirtschaft eigentlich geworden ist. Der ganze Prozess, dieses System, ist sehr fragil und konfliktanfällig für Störungen", sagt Gern. "Aber es ist auch nicht so, dass jetzt alles wie ein Kartenhaus zusammenstürzt, sondern wir sehen auch, dass die Akteure doch in der Lage sind, relativ rasch zu reagieren und ganz große Unfälle zu verhindern."
Gern will hier lieber von einem "Knirschen im Gebälk" oder "Sand im Getriebe" sprechen. Alles laufe langsamer, es komme hier und da mal zum Stau und es gebe Produktionseinschränkungen. Die Wirtschaft wachse nicht so schnell, wie sie eigentlich könnte und sollte. Einen nachhaltigen Schaden hätte man allerdings bislang nicht erlitten.
"Man hat jetzt sozusagen einen Warnschuss bekommen, dass man bei der Gestaltung seiner Produktionsweise die Sicherheitsaspekte nicht vergessen darf", sagt der Ökonom. Mehr Sicherheit in den Produktionskosten kostet am Ende zwar mehr Geld, beispielsweise für Lagerkosten oder die Bestellung bei zwei oder drei Anbietern gleichzeitig, statt nur beim günstigsten. Doch durch die aktuelle Lieferproblematik sei die Bereitschaft für diese Investitionen gestiegen.
Statt auf Dumping-Preise lieber auf Versorgungssicherheit zu setzen, ist immerhin schon eine Veränderung im harten Konkurrenzkampf des Kapitalismus. Doch man darf nicht zu viel erwarten. Die Globalisierung wird weitergehen: Die derzeitige Situation "erhöht ein wenig die Kosten in diesen Systemen. Das wird man am Ende in den Preisen sehen, aber es wird nicht massiv sein und es wird auch die globale Wirtschaft nicht fundamental verändern."
Doch alle, die jetzt schon mit Einkaufstasche in der Haustüre stehen, können beruhigt sein: Es wird weiterhin Süßwaren und Wein im Supermarkt geben – nur vielleicht nicht mehr jede Marke. Oder der Lieblingssnack könnte etwas teurer werden. Denn die Produkte im Supermarkt werden heutzutage international produziert und andere Länder beziehen ihre Rohstoffe aus unterschiedlichen Ländern. Das ist wiederum ein Vorteil, den die Globalisierung bietet.
Um Geld für teurere Rohstoffe zu sparen, könnten Firmen nun entweder ihre Produktion umstellen. "Doch dazu müssen sie dann möglicherweise aber auch ihre Rezeptur ändern. Das will natürlich keiner, wenn man ein Produkt hat, das für seinen Geschmack bekannt ist", sagt der Ökonom Gern.
Ein anderer Weg ist die Preiserhöhung: "Und über die Preiserhöhung geht wahrscheinlich der Wechsel zu anderen Produkten vonstatten, die vielleicht auch aus dem Ausland kommen." Also statt Ritter Sport vom deutschen Hersteller zum doppelten Preis bleibt dann vielleicht nur, ein Snickers oder Kinder Schokolade zu kaufen.