Fassungslosigkeit. Das ist das Gefühl, das viele wohl erfasst, die in den vergangenen Tagen vom Missbrauchskomplex in Wermelskirchen (Nordrhein-Westfalen) gehört haben. Ein 44 Jahre alter Mann, der sich als Babysitter anbot, soll demnach im Zeitraum von 2005 bis 2019 Jahren zwölf Kinder im Alter von einem Monat bis 14 Jahren sexuell missbraucht haben.
Die Aufnahmen der Taten kursierten bundesweit in einschlägigen Chats, es geht um 32 Terabyte Bildmaterial. Die Ermittler entdeckten 232 Datenträger, auf einer Festplatte habe man 3,5 Millionen Bilddateien und 1,5 Millionen Videos gefunden.
Sexueller Kindesmissbrauch ist weit verbreitet, allein 2021 wurden 15.507 Fälle in Deutschland bekannt. Und die Täter sind zumeist nicht Fremde, sondern kommen zu ungefähr 25 Prozent aus der Familie und zu circa 50 Prozent aus dem sozialen Nahraum. Bildungsstand, Geschlecht, Alter oder Sympathie spielen dabei keine Rolle, wie immer wieder gewarnt wird. Wie also können wir Kinder davor schützen?
Durch Aufklärung ohne Scham, das Zulassen ihrer Gefühle und der uneingeschränkten Unterstützung ihrer persönlichen Grenzen, sagen Experten. Auch, wenn das Erwachsenen manchmal schwer fällt.
"Wegducken gilt nicht!", sagt Yvonne Oeffling klar. "Wir müssen lernen, mit Kindern auch über schwierige Themen zu sprechen." Sie ist Teil der Geschäftsführung von AMYNA – einem Verein zur Abschaffung von sexuellem Missbrauch und sexueller Gewalt.
Der Verein bietet seit über 30 Jahren Bildungs- und Beratungsangebote für Erwachsene an, die für den Schutz von Kindern und Jugendlichen Verantwortung tragen. Oeffling weiß, wie schwierig es vielen Erwachsenen fällt, mit kleinen Kindern über Sex und vor allem sexuelle Übergriffe zu sprechen. Was Eltern dabei hilft? Fakten.
Es nütze nichts, Kinder vor solchen Themen beschützen zu wollen, besonders wenn diese gerade aktuell in den Medien kursieren. "Kinder bekommen mit, wenn Erwachsene Themen diskutieren, die sie bewegen", so Oeffling gegenüber watson. "Sie haben Fragen und wollen Antworten." Die größte Aufgabe sei es, sich nicht vor solchen Themen zu drücken, nur weil sie einem unangenehm sind, sondern einen Weg zu finden, altersangemessen und ehrlich darüber zu sprechen.
Es sei wichtig, auch Kindern zu erklären, "dass es Personen gibt, die gegen ihren Willen handeln, dass dies aber nicht in Ordnung ist." Auch Kinder haben Rechte. Ihnen das positiv zu vermitteln und ihr Selbstbewusstsein zu stärken, sei Aufgabe der Erwachsenen. "Dies hilft Kindern aufzudecken, wenn ihnen Dinge passieren die nicht in Ordnung sind."
Die Initiative "Trau Dich" der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) und des Bundesjugendministeriums informiert Kinder, Eltern und Fachkräfte zum Thema sexueller Missbrauch. Die Initiatoren raten dazu, Kindern früh die eigenen Rechte zu vermitteln. Dazu gehört:
Oeffling bestätigt, dass es der Auftrag der erwachsenen Bezugsperson sei, stets deutlich zu machen: "Ich bin für dich da! Ich helfe dir, wenn du nicht weiterkommst! Du musst nicht für alles selber eine Lösung finden. Hilfe holen ist auch eine Stärke. Ich tröste dich, helfe dir und sorge für dich!" Wer diesen Schutz und diese Zuwendung im Kindesalltag erfährt, dem fällt es auch leichter, im Falle einer sexuellen Grenzüberschreitung Hilfe zu holen.
Dem Kind die Bestimmung über eigene körperliche Grenzen zuzugestehen, sei schon in jungen Jahren eine wichtige Erfahrung. Das gelte auch für den feuchten Kuss, den Oma so gern aufdrücken möchte, den man aber nicht erzwingen sollte. Brav hin oder her. "Komm, einmal drücken" oder "Ein kleines Küsschen als Dankeschön" muss nicht sein, wenn es nicht selbst gewollt ist.
Solche Dinge nicht einzufordern, zeigt den Kleinen, dass ihre Grenzen "von Erwachsenen erkannt und respektiert" würden. Oeffling: "Für Kinder ist es hilfreich, wenn sie immer wieder erleben, dass sie eigene Rechte haben und diese von Erwachsenen respektiert und unterstützt werden. Sie können dann schneller erkennen, wenn jemand seine Rechte missachtet."
Das Selbstbewusstsein von Kindern zu fördern ist die beste Prävention, die man sich denken kann. "Starken Kindern fällt es leichter, sich jemandem anzuvertrauen, wenn sie Hilfe brauchen", sagt Oeffling. Mit "Stärke" ist hier aber nicht Tapferkeit im Sinne von Zusammenreißen gemeint, sondern das ehrliche Zugestehen von Emotionen.
Erwachsene dürfen ihre Machtposition nicht ausnutzen oder die Gefühle kleiner Kinder klein reden, auch die von Jungs nicht. Denn: "Mädchen* und Jungen*, die in ihrer persönlichen Wahrnehmung gestärkt sind, lassen sich nicht so schnell manipulieren", sagt Oeffling. Und emotionale Manipulation ist ein typisches Mittel von Missbrauchs-Tätern.
Dazu gehöre auch, dass sich Eltern und Erwachsene Zeit nähmen, um mit Kindern zu reden und ihnen zuzuhören. "Das gibt Kindern die Möglichkeit, über ihre Probleme und Anliegen zu sprechen" und stärkt das Wissen: Wenn wirklich etwas passiert, wird man mir zuhören und helfen.
Die Medizinische Kinderschutzhotline des Bundesjugendministeriums rät, auf folgende Hinweise zu achten, um sexuellen Missbrauch zu erkennen.
Auffälliges Sexualverhalten
Sexuell missbrauchte Kinder zeigen zwar häufiger auffälliges Sexualverhalten als nicht missbrauchte Kinder, als Beweis für einen stattgefundenen sexuellen Missbrauch kann dies jedoch nicht gelten.
Körperliche Befunde
Viele Formen sexuellen Missbrauchs hinterlassen keine körperlichen Auffälligkeiten. Stattgefundener Körperkontakt kann körperliche Befunde hinterlassen, muss aber nicht! Eine unauffällige gynäkologische Untersuchung schließt einen sexuellen Missbrauch daher nicht aus, sollte aber trotzdem auf jeden Fall bei der Befundung durchgeführt werden.
Die Aussage des betroffenen Kindes
Die Äußerungen müssen in jedem Fall ernstgenommen und unverfälscht protokolliert werden. Eine sichere Gesprächsatmosphäre inkludiert einen ruhigen Raum und viel Zeit. Empathie ist wichtig, allerdings ohne Dramatisierung. Keine Suggestivfragen stellen und nicht "ermitteln". Verständnisfragen sind ok. Betroffenen Kindern muss immer wieder vermittelt werden, dass sie keine Schuld trifft und es richtig war, sich jemandem anzuvertrauen. Bevor mit Bezugspersonen darüber gesprochen wird, sollte der Täter bekannt sein. Unterstützung holen ist in Ordnung, wenn Betroffene zustimmen.
Genau hinschauen lautet die Devise, aber auch keine voreiligen Schlüsse ziehen! Dem Anfangsverdacht sollte immer möglichst diskret nachgegangen werden, um mögliche Falschbeschuldigungen zu vermeiden. Niemals jedoch sollte man das ungute Gefühl beiseite schieben und sich denken: Wird schon nichts sein!