In einigen europäischen Ländern wie Großbritannien und Dänemark gab es ihn bereits: den Freedom Day. Und auch Schweden und Finnland haben sich kürzlich für eine Öffnung entschieden und angekündigt, die meisten Corona-Maßnahmen zum 9. Februar beziehungsweise zum 1. März zu beenden. Zwar bedeuten die geplanten Lockerungen nicht, dass das Virus in diesen Ländern besiegt ist, doch die dortigen Regierungen haben entschieden, dass das Pandemiegeschehen und die daraus resultierenden Folgen keine Einschränkungen mehr erfordern. Blicken wir nun neidisch auf diese Freiheit? Denn plötzlich werden auch in Deutschland Rufe nach einer Öffnung laut.
SPD-Gesundheitsminister Karl Lauterbach kündigte im TV-Sender "Bild LIVE" gerade eine Öffnung "deutlich vor Ostern" an. Möglicherweise werde bereits auf dem Corona-Gipfel am 26. Februar über Lockerungen der Corona-Maßnahmen debattiert. Vor einer zu schnellen Öffnung jedoch warnt Lauterbach, angesichts der derzeitigen Lage, weiterhin vehement und verteidigt die noch gültigen Regeln auch bei Twitter: "Die neuen Daten aus Israel zeigen eine hohe Omicron-Sterblichkeit, die darauf zurückgeht, dass zu viele Ältere ungeimpft sind", schrieb er, die aktuellen Maßnahmen in Deutschland schützten gerade diese Gruppe.
Deutschland will die Freiheit der Nachbarn, aber kann es sich das leisten? Vergleicht man die Situation mit den Ländern, die geöffnet haben oder kurz vor der Öffnung stehen, ergibt sich ein differenziertes Bild: Die Impfquote von 74,3 Prozent vollständig Geimpfter ist in Deutschland sogar leicht über der Quote von Schweden (72,7 Prozent) und Großbritannien (72,3 Prozent), liegt jedoch niedriger als beispielsweise jener in Finnland (75,5 Prozent) und ist erheblich geringer als in Dänemark (81,2 Prozent).
Beim Blick auf die Inzidenzen aus der Statistik der Johns Hopkins University und des ECDC liegt Finnland mit einer 7-Tages-Inzidenz von fast 5000 eindeutig vorne. Und trotzdem wird dort am 1. März gelockert. Darauf folgt Schweden mit einer Inzidenz von 2100, Deutschland liegt bei fast 1500 und Großbritannien sowie Finnland bei circa 700.
Nicht fehlen darf auch der Blick auf die Hospitalisierungsrate. Deutschland liegt hier bei 5,41, Großbritanniens Hospitalisierungsrate beträgt 15,11 und die von Dänemark von 33,94. Für Schweden liegt keine Rate vor, dort liegen aber derzeit nur 110 Patienten auf der Intensivstation, womit Schweden äußerst gut da steht.
Die Entscheidung für Deutschland ist nicht leicht, der Blick auf den Weg anderer Länder bietet keine große Orientierungshilfe: Einerseits stehen wir in Sachen Hospitalisierungsrate und Impfquote gar nicht so schlecht da. Andererseits wütet die Pandemie immer noch in Form einer bundeweiten Inzidenz von fast 1500, wobei das Virus derzeit wohl vor allem über Schulen und Kitas weiterverbreitet wird.
Wir haben den Epidemiologen Prof. Timo Ulrichs von der Berliner Akkon-Hochschule für Humanwissenschaften gefragt, ob die Öffnungsdebatte verfrüht ist und was uns hierzulande erwartet.
Tatsächlich sieht Ulrichs Deutschland derzeit nicht in der Position, um über eine Lockerung der Corona-Maßnahmen zu diskutieren. Schuld daran seien mehrere Faktoren:
Zwar findet auch hier in Deutschland trotz aller Maßnahmen eine Durchseuchung statt. Doch der Epidemiologe verteidigt die anhaltenden Regeln mit dem Schutz der vielen Ungeimpften vor einem schweren Covid-19-Verlauf. So rät Ulrichs, das Pandemiegeschehen in Deutschland als langfristigen Plan zu sehen: "Ziel ist, diese (unvermeidlichen) Patienten auf einen längeren Zeitraum zu verteilen. Daher sollen Übertragungen verzögert werden mit den genannten Maßnahmen."
Ulrichs meint, dass Länder wie Finnland oder Dänemark wegen der hohen Impfquote trotz hoher Inzidenzen eine Öffnung durchziehen können. "Die Durchseuchung wird einen Beitrag zu der bereits durch Impfung vorhandenen Grundimmunität leisten", erklärt er gegenüber watson. "Diese Ländern können ziemlich sicher in den nächsten Herbst/Winter gehen." Die Öffnung im Vereinten Königreich findet er dagegen "riskant", weist allerdings darauf hin, dass Großbritannien schon den Höhepunkt der Omikron-Welle überstanden habe.
Trotzdem macht der Epidemiologe auch uns etwas Hoffnung für den Sommer. Er findet Lauterbachs Öffnungspläne für die Zeit vor Ostern "realistisch" und prognostiziert gegenüber watson: "Ich würde sogar schätzen, dass bereits Ende Februar die Omikronwelle wieder abebben wird und wir öffnen/lockern können."
Auch teilt er die Einschätzung des Gesundheitsministers Karl Lauterbach, wonach eine Impfpflicht unbedingt notwendig ist, um die Pandemie endlich dauerhaft zu besiegen. Die deutsche Impfquote sei einfach noch zu gering für einen Sieg über das Virus. "Wir haben bezüglich Impfen in Deutschland unsere Hausaufgaben noch nicht gemacht."
Doch die Impfpflicht könne das nachholen, "so dass die Kombination 'Impfen und einer Omikron-Durchseuchung' genügend Immunität in die Bevölkerung bringt, dass wir im Herbst/Winter vor größeren Wellen gefeit sein werden – auch wenn diese durch eine neue Variante ausgelöst werden sollten", sagt Ulrichs watson. Und schränkt gleich danach vorsichtig ein: "Es sei denn, es käme eine Variante, die völlig anders aussieht als die bisherigen."