Berlin feiert sich selbst als weltoffene und tolerante Stadt: Hier gibt es schließlich den größten Umzug zum Christopher Street Day, die meisten queeren Clubs – und ein schwules Museum. Doch in der Hauptstadt gibt auch immer wieder Attacken und Übergriffe auf queere Menschen und Einrichtungen.
In der Nacht von Donnerstag feuerten Unbekannte mehrere Schüsse auf das Schwule Museum in Berlin ab. Die Täter und die Motive sind der Polizei bisher unbekannt.
Bereits früher gab es Attacken auf das Schwule Museum, das 1984 gegründet wurde und als eines der größten queeren Museen der Welt gilt. Im April 2020 warfen Unbekannte Steine auf die Einrichtung, 2016 wurde ebenfalls auf das Museum geschossen.
Verletzte gab es beim jüngsten Angriff keine, doch neben Fenstern und dem Leuchtschild wurde auch ein Kunstwerk beschädigt. Es handelt sich um einen Schwarzen Winkel aus Filz, der anlässlich der Ausstellung "Queering the Crip, Cripping the Queer" angefertigt wurde
Watson hat mit Heiner Schulze, Mitglied im Vorstand des Schwulen Museums, über den Vorfall und zunehmend queerfeindliche Tendenzen in Politik und Gesellschaft gesprochen.
Schulze sagt, Drohungen gegen das Schwule Museum habe es im Vorfeld der Schüsse keine gegeben – abseits der üblichen Attacken auf Social Media:
Schulze sieht zwar kein "akutes Bedrohungsszenario" für das Schwule Museum oder seine Mitarbeiter:innen. Trotzdem herrsche ein Gefühl der Verunsicherung: "Es gibt eine gewisse Unsicherheit, wenn man da [im Museum] ist. Gleichzeitig ist es auch eine Bestätigung: Man sieht eindeutig, dass es so eine Einrichtung auf jeden Fall braucht", sagt Schulze.
Das Vorstandsmitglied erwartet, dass die Besucher:innen des Museums in nächster Zeit nicht ausbleiben, sondern es eher mehr werden: "Es ist ein paradoxes Phänomen, aber es wurde jetzt Aufmerksamkeit geschaffen: Ich gehe davon aus, dass sich vielleicht einige abschrecken lassen, aber viele aus Solidarität kommen werden, um dem Anschlag etwas entgegenzusetzen."
Spezielle Sicherheitsvorkehrungen gebe es im Schwulen Museum trotz immer wiederkehrender Anschläge nicht. "Ein großes Sicherheitskonzept, das Geld kostet, könnten wir uns gar nicht leisten", sagt Schulze. Das Museum wird zwar vom Land gefördert, aber das reiche nicht. Auch Einnahmen und Mitgliederbeiträge seien wichtig.
Warum die Attacke gerade jetzt passierte, kann sich auch Schulze nicht erklären. Die aktuelle Ausstellung heißt "Love at First Fight! Queere Bewegungen in Deutschland seit Stonewall" und handelt von queerem Widerstand der vergangenen 50 Jahre in der BRD, der DDR und im wiedervereinigten Deutschland. Nicht unbedingt provokativ.
Jedoch ist das Schwule Museum eines der größten Museen zum Thema LGBTQ+ und damit ein Symbol für queeres Leben: Allein die Sammlung im Schwulen Museum umfasst etwa 1,5 Millionen Archivalien, auf einer Ausstellungsfläche von knapp 700 Metern werden normalerweise bis zu vier Ausstellungen gleichzeitig gezeigt. Es wird vom Land Berlin gefördert und bietet jährlich tausenden von Besucher:innen Einblicke in queere Geschichte, Kunst und Aktivismus.
Schulze sieht für die jetzige Attacke keinen konkreten Anlass, beobachtet aber eine Tendenz: "Ich würde das eher in einem Zusammenhang mit einer sich wieder verschärfenden Queerfeindlichkeit sehen, die wir schon seit Jahren sehr stark erleben."
Schulze spricht davon, dass sich die "gesellschaftliche Debatte gegen Transpersonen radikalisiert" – das erkenne man auch an den Polizeimeldungen: Das Bundesinnenministerium meldete für das Jahr 2020 deutschlandweit 204 transfeindliche Straftaten, 35 davon waren Körperverletzungen. Insgesamt steigt die dokumentierte Gewalt gegen LGBTIQA+ seit mehreren Jahren drastisch an, 2020 wurden 36 Prozent mehr Angriffe als im Vorjahr registriert.
Teilweise passiere diese Radikalisierung unter dem Deckmantel anderer Debatten, wie der um das Gendern. Der Vorstand des Schwulen Museums verweist hier auf den Volksentscheid gegen Gendersprache, die auch von der Politik unterstützt wurde. Schulze:
Auch transfeindlicher Feminismus sei ein Problem, das prominenteste Beispiel sei wohl die Feministin und Publizistin Alice Schwarzer. "Wenn man sich anguckt, wie diese Menschen über Transmenschen und queere Menschen allgemein reden, entsteht der Eindruck einer allgemeinen Queerfeindlichkeit", sagt Schulze.
Auch Corona-Gegner hätten Queerfeindlichkeit auf ihrer Agenda. Hier habe sich in den letzten zwei Jahren ein gewisses, queerfeindliches Protestmilieu herausgebildet. Schulze erzählt von einer Zeit, in der er in Thüringen arbeitete und sich in Telegramgruppen von Querdenkern schlich: "Da konnte man sehen, wie dort versucht wurde, Queerfeindlichkeit anschlussfähig zu machen und wie das auch übernommen wurde."
Immerhin steht nicht wieder die NPD vor der Tür des Schwulen Museums. Mit der hatte Schulze nämlich auch schon Berührungspunkte:
Deren Verbotsantrag wurde zwar 2017 als unbegründet zurückgewiesen. Doch festgestellt wurde auch: Die NPD sei eindeutig verfassungsfeindlich, wesensverwandt mit dem historischen Nationalsozialismus und wolle "die bestehende Verfassungsordnung durch einen an der ethnisch definierten ‚Volksgemeinschaft‘ ausgerichteten autoritären Nationalstaat ersetzen".
Anfeindungen ist das Schwule Museum also leider gewöhnt. Ob die Täter:innen dieses Mal gefunden werden, ist fraglich. In der Vergangenheit verliefen entsprechende Ermittlungen häufig im Sand.