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Leben
Leicht eingequetscht sitze ich zwischen einem schnauzbärtigen Mann und einer lockenhaarigen Frau in einem kargen, leicht überhitzten Seminarraum in Gelsenkirchen. Die Tische sind in einem großen Quadrat aufgestellt, damit wir uns alle gut sehen können.
Mein Smartphone habe ich auf dem Tisch vor mir liegen, damit ich im Zweifelsfall Notizen mittippen kann. Dann schaue ich rüber zu dem Mann neben mir: Er hat lediglich einen Notizblock, einen Kuli von den Linken und ein Brillenetui vor sich platziert. Mein Blick wandert zu den anderen Tischen. Keine Handys.
Verstohlen lasse ich mein Smartphone vom Tisch verschwinden und frage mich: Ist es ein Fauxpas, inmitten von Hartz-IV-Empfängern mein neues Samsung auszupacken? Oder holen mich da meine Vorurteile ein?
Die Teilnehmer wissen noch nicht, dass ich früher selbst von Hartz IV lebte
Das ist das erste Mal, dass ich beim Treffen einer Hartz-IV-Selbsthilfegruppe teilnehme. Als Besucherin, nicht als Betroffene. Ich bin nervös, weil ich immer noch nicht abschätzen kann, ob die Gruppe meine Anwesenheit akzeptiert oder mich als Eindringling wahrnehmen wird.
Dass ich aufgrund meiner eigenen Familiengeschichte einen Bezug zu Hartz IV habe, wissen die Teilnehmer noch nicht. Denn meine Eltern haben bereits im Jahr 2005 von Hartz IV gelebt, damals war ich 17 Jahre alt. Mit 18 Jahren, als angehende Abiturientin, wurde ich dann selbst einige Monate lang Hartz-IV-Empfängerin, bis ich Bafög bekam. Und meine Mutter ist heute noch angewiesen auf das System.
Ich habe allerdings mittlerweile ein Studium abgeschlossen, bin nach Berlin gezogen und in Vollzeit berufstätig. Hartz IV ist für mich eigentlich nur noch ein Kapitel in einem Leben, das ich vor Jahren abgeschlossen habe und das so weit von mir entfernt ist wie das Jobcenter in Düsseldorf, von dem ich vor über einem Jahrzehnt abhängig war.
Ich lasse meinen Blick wieder durch den Raum schweifen. Da ist ein etwas älterer Mann, der mich neugierig mustert. Eine junge Frau, die offensichtlich mit ihrer Mutter hier ist. Ein Mann mittleren Alters, dessen Krücken an seinem Tisch lehnen. Ich frage mich: Was haben wir wohl noch miteinander gemeinsam?
Die Stimmung: mehr Kulturverein als Selbsthilfegruppe
Nun betritt Dieter Heisig den Raum und eilt zum mittleren Tisch am vorderen Ende des Quadrats. Heisig ist evangelischer Pfarrer und leitet die Gruppe. Mit ihm stand ich bereits in Kontakt. Heute ist der resolut wirkende Mann mit Schnauzbart und Brille etwas spät dran, weil er vorher noch zu einer Beerdigung musste.
"Wir haben heute den Mann von der Doris beerdigt", erklärt er der Gruppe in ruhigem Ton.
"Unsere Doris?", fragt einer der Teilnehmer.
"Ja, unsere Doris."
Ein kurzes betretenes Schweigen. Dann geht es weiter mit der Tagesordnung, Orga. Es wird gesprochen über anstehende Grillabende, Diskussionsrunden und Ausflüge. Ein kurzes Resümee des Evangelischen Kirchentags, der Mitte Juni in Dortmund stattgefunden hatte. Die Stimmung wirkt mehr wie kultureller Ortsverein als Selbsthilfegruppe.
Hartz-IV-Empfänger vor der Isolation bewahren
Ich erinnere mich, als ich das erste Mal mit Heisig telefonierte – das war wenige Wochen vor meinem Besuch. Heisig wird auch der Hartz-IV-Pfarrer genannt, wie eine kurze Google-Suche ergab. Er hat die Gruppe vor fast 15 Jahren, als das Hartz-IV-System eingeführt wurde, ins Leben gerufen.
"Ein Drittel ist Beratung, ein Drittel politische Arbeit und ein Drittel Freizeitangebote", erklärt mir Heisig den Daseinszweck der Gruppe. In den letzten Jahren sei das letzte Drittel allerdings immer wichtiger geworden – denn Arbeitslosigkeit isoliert.
"Meiner Erfahrung nach vereinsamen viele Hartz-IV-Empfänger."
Aktuell leben fast vier Millionen erwerbsfähige Leistungsberechtigte vom Arbeitslosengeld II, wie das umgangssprachliche Hartz IV eigentlich heißt. Im Jahr 2017 waren davon mehr als 300.000 Menschen über drei Jahre auf die Sozialleistung angewiesen – vor allem Menschen ab 50 finden nur selten wieder eine Vollzeitbeschäftigung. Und das hat Folgen – nicht nur finanzielle, auch persönliche.
"Meiner Erfahrung nach vereinsamen viele Hartz-IV-Empfänger", sagt Heisig am Telefon. "Viele Freundschaften gehen kaputt, aber auch Partnerschaften. Ich kann die Freundin dann eben nicht mehr zum Kaffee einladen, das belastet auf Dauer."
Dass die Gruppe ein soziales Umfeld ergänzen oder für manchen vielleicht sogar bis einem gewissen Grad ersetzen kann, spürt man bei der Sitzung deutlich. Die Gruppe verbindet, auch über das Thema Arbeitslosigkeit hinaus. Das merkt man auch daran, dass nicht alle Mitglieder Hartz-IV-Empfänger sind.
Friedrich* ist zwar kein Hartz-IV-Empfänger mehr, nimmt aber trotzdem regelmäßig an Treffen der Selbsthilfegruppe teil.Bild: privat / watson Montage
Es nehmen nicht nur Hartz-IV-Empfänger an der Runde teil
Bei einer kurzen Vorstellungsrunde erzählen einige der Teilnehmer, dass sie mittlerweile in Rente sind. Andere haben wieder Arbeit gefunden. Manche sind schon seit Gründung der Gruppe dabei, immer wieder mal zumindest. Je nachdem, ob es gerade Arbeit gab oder eben nicht.
Nach der Vorstellungsrunde erteilt Heisig nun mir das Wort. Darauf bin ich nicht vorbereitet. Ich dachte, ich würde nur dem Treffen beisitzen, zuhören, mich hin und wieder einbringen. Dass ich quasi der Haupt-Act bin – damit habe ich ehrlicherweise nicht gerechnet.
Also sprudelt es aus mir heraus: Wer ich bin, was ich mache, warum ich mich für Hartz IV interessiere. Mein persönlicher Bezug dazu. Ich erzähle von meiner Mutter und dass ich einfach nur wissen wollte, wie so eine Selbsthilfegruppe funktioniert und wer dessen Mitglieder sind.
"Wie geht es euch eigentlich?"
Wir sprechen darüber, wie Hartz-IV-Empfänger in den Medien dargestellt werden. Wie das klischeehafte Bild des Langzeitarbeitslosen erzeugt wird. Versuchen, gemeinsam zu ergründen, warum sich Hartz-IV-Empfänger so wenig wehren, warum sie sich nicht organisieren – und kommen zu dem gemeinsamen Schluss: Weil Hartz IV lähmt. Weil die Arbeitslosigkeit oder auch nur die Angst davor so viel psychischen Druck ausübt, dass sie antriebslos macht.
Und dann frage ich: "Wie geht es euch eigentlich?"
Friedrich*, der eigentlich schon in Rente, aber extrem gegen Hartz IV ist, sagt:
"Man muss eben gucken, wo man bleibt. Hartz IV soll ja nicht reich machen, man soll sich nicht in der sozialen Hängematte ausruhen, sondern möglichst schnell in den Niedriglohnsektor reinschwingen."
Richard, der gesundheitlich stark angeschlagen ist und deswegen nicht arbeiten kann, sagt:
"Mich nervt es, dass man jeden Cent umdrehen muss. Gleichzeitig habe ich, offen gestanden, auch keine Lust, mich in prekären Leistungsverhältnissen durchzuschlagen. Ich habe Angst vor der Zukunft – denn an meiner finanziellen Situation wird sich bis ans Lebensende nichts mehr ändern."
Harry, Sozialarbeiter und Familienvater zweier Kinder, bekommt immer nur kurzzeitig befristete Arbeitsverträge und landet zwischendurch immer wieder bei Hartz IV. Er sagt:
"Ich bin nervös, meine Familie ist auch nervös. Da kommen sogar schon manchmal Sprüche von den Kindern, von wegen, ob ich immer noch keine Arbeit hätte. Ich fühle mich allein gelassen – einerseits von dem System, das einen ausgrenzt, andererseits auch von Freunden und Bekannten. Einige von ihnen kann ich nicht mehr einladen, weil ihnen das Verständnis für meine Situation fehlt."
Michael, ein sensibel wirkender Mann mittleren Alters, spricht offen darüber, wie schwer es ist, soziale und vor allem auch romantische Kontakte zu knüpfen:
"Mir geht es nicht gut. Es ist nicht einfach, neue Leute kennenzulernen. Spätestens wenn die Frage kommt: 'Und was machst du so beruflich?' werde ich unsicher. Ich bin dann im Zugzwang, meine Lebensgeschichte zu erzählen und die Arbeitslosigkeit zu begründen – das hat dann am Ende gar nicht mehr so viel mit mir zu tun. Offen über die Erwerbslosigkeit zu sprechen, ist kaum möglich."
Es geht viel um Scham, mangelnde Akzeptanz von Mitmenschen und Zukunftsängste. Um die Bewältigung des Alltags, der durch die knappen finanziellen Mittel stark eingeschränkt wird. Denn wer komplett auf Hartz IV angewiesen ist, hat im Monat 424 Euro zur Verfügung, wenn er allein lebt. Damit ist für viele Menschen der regelmäßige Gang zur Tafel und die ständige Suche nach Schnäppchen Alltag.
Die Scham wird vor der Tür gelassen
Gleichzeitig erfahre ich hier eine Selbstverständlichkeit, mit der Betroffene über Hartz IV sprechen wie nur selten zuvor. Die Scham vor der Welt da draußen, die gibt es – und die wird vor der Tür gelassen, so scheint es.
Deswegen sind Gruppen wie diese hier notwendig: Sie dienen der Aufwertung des Selbst, da erst im Zusammenschluss mit anderen eine Kultur entsteht, an der Menschen in prekären Lebensverhältnissen wieder teilhaben können. Und Teilhabe schafft persönliches Wertgefühl. Das ist die Basis, um wieder ein Teil der Gesellschaft werden zu können – ob wirtschaftlich arbeitend oder, aus welchen Gründen auch immer, nicht.
Nun fragt mich die junge Frau, Kristina, die bisher noch nichts gesagt hat: "Mit welchem Gefühl bist du hergekommen?"
Ich überlege. Dann antworte ich: "Ich war etwas aufgeregt. Aber ich glaube, am Ende war ich vor allem neugierig. Ich treffe Hartz-IV-Empfänger immer nur allein. Es ist schön, so eine Gruppe kennenzulernen – auch wenn es eigentlich eine Selbsthilfegruppe ist."
Die Teilnehmer nicken zufrieden.
*Die Namen der Gruppenteilnehmer wurden von der Redaktion geändert.